Warum die Wahrheit widersprüchlich sein muss

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Die zentrale Erkenntnis, die spiritueller Praxis folgt, ist, das alles eins ist, alles unntrennbar miteinander verbunden ist und Gott in uns und wir in Gott sind.
Ken Wilber nennt das „Nondualität“. Im Kern der Welt sind Form und Leere eins. Damit muss auch die Wahrheit widersprüchlich sein, damit sie alles umfasst.

Schon der Kirchenvater Niklaus Kues hat das erkannt und in Gott das „Zusammenfallen der Gegensätze (coincidentia oppositorum)“ gesehen.

Besonders eindrücklich geht der russische Religionsphilosoph Pavel Florenskij diesem Phänomen nach.
Er schreibt in seinem Werk „Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit …“ :

Die Wahrheit ist eine unbewegliche Bewegung und eine bewegliche Unbewegtheit. Einheit des Entgegengesetzten. Sie ist – coincidentia oppositorum.

(Zweiter Brief, Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit. Versuch einer orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen. Edition Kontext, Berlin, Übersetzung: Nikolai von Bubnoff

Durch die Anwendung der klassischen Logik auf die Philosophie und Theologie geraten wir zwangsweise entweder in eine Sackgasse oder verfallen in Fanatismus.
Statt “Entweder dieses oder jenes andere ist wahr“ oder “Weder dieses noch jenes andere ist nicht wahr“ gilt: „Sowohl dieses als auch jenes andere ist wahr, jedes auf
seine Art“. Das erinnert an das Lob des „und“ durch den zeitgenössischen katholischen Theologen Richard Rohr.

Das Dogma selbst hat diese Form. Deshalb lässt es sich nicht denken, wie sich ein wissenschaftlicher Satz denken lässt, sondern nur glauben. Nicht weil es irrational wäre, sondern weil es über die gewohnte Logik hinausgeht:

Auf dem Konzil von Chalkedon wird bekannt:

[…] Christus, Sohn, Herr, Einziggeborener in zwei Naturen unvermischt, unverändert, ungeteilt und ungetrennt zu erkennen, in keiner Weise unter Aufhebung des Unterschieds der Naturen aufgrund der Einigung, sondern vielmehr unter Wahrung der Eigentümlichkeit jeder der beiden Naturen und im Zusammenkommen zu einer Person und einer Hypostase, nicht durch Teilung oder Trennung in zwei Personen, sondern ein und derselbe einziggeborene Sohn, Gott, Logos, Herr, Jesus Christus

Die Häresie ist eine einseitige Behauptung, die sich deshalb irrtümlich für das Ganze hält.

Die Orthodoxie ist universal, die Häresie ist ihrem Wesen nach parteiisch.

Pavel Florenskij, Sechstes Kapitel

Für ihn muss deshalb die Wahrheit eine Behauptung sein, die sich selbst widerspricht. Das passt zu der Aussage des Physikers Niels Bohr:

Die Wahrheit setzt sich zusammen aus Thesis und Antithesis.

Niels Bohr

Pavel Florenskij meint:

Es ist längst an der Zeit, die kraftlose Anstrengung des menschlichen Verstandes, die Widersprüche auszugleichen, […] durch ein freimütiges Bekenntnis der Widersprüchlichkeit abzuwehren. […]

Die Menschen streiten miteinander und widerlegen einander; die Wahrheit aber soll unwiderlegbar und über alle Widerlegungen erhaben sein. Die menschlichen Meinungen wechseln von Land zu Land und von Jahr zu Jahr; die Wahrheit aber ist überall und immer die eine, sich selbst gleiche. […] Die Wahrheit ist gerade darum Wahrheit, weil sie keinerlei Widerlegung fürchtet; sie fürchtet sie aber darum nicht, weil sie sich selber stärker widerspricht, als jede denkbare Verneinung tun könnte; aber diese ihre Selbst-Verneinung verbindet die Wahrheit mit der Behauptung. Für den Verstand ist die Wahrheit ein Widerspruch, und dieser Widerspruch wird offenbar, sobald die Wahrheit eine Formulierung in Worten erhält.

(Florenskij, Sechster Brief)

Quelle: Pavel Florenskij, Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit. Versuch einer orthodoxen Theodizee in zwölf Briefen. Edition Kontext, Berlin, Übersetzung: Nikolai von Bubnoff, Online in Auszügen unter: http://www.kontextverlag.de/florenskij.pfeiler.html

4 comments

    1. Kannst du näher erläutern, worin der deiner Erfahrung nach besteht? Denn für mich ist Gott – die Wirklichkeit – die Wahrheit schlussendlich alles eins, das sich natürlich in unserer Wahrnehmung aufspaltet in die Vielheit, die wir sehen, spüren, erleben, etc. also erfahren. Alle Trennungen basieren auf Spaltung und diese erst ermöglicht eben Erfahrungen und damit auch Unterscheidungen wie die deine.

  1. meiner Ansicht, Auffassung nach oder meinem Weltbild entsprechend, ist die Wirklichkeit das “Ganze” (wahrscheinlich bis zur letzten Sekunde nie ganz “begreifbar”) und unsere Wahrheit oder Meinung darüber ein Teil dessen was es ist oder wie es ist. Je mehr Bewusstsein wir uns darüber verschaffen desto größer wird die Überschneidung und desto mehr können wir begreifen…

    Ich komme nicht aus der Sprial Dynamics Ecke oder so…mein integral, holistisches Weltbild ist eher ein allgemein menschliches 🙂

  2. das ist doch eine wunderbare Ergänzung, danke. Oft verwenden wir einfach Begriffe etwas anders – auch genaue Definitionen werden vermutlich nie ganz verhindern können, dass wir das tun.

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