Warum ich heute gelb denke

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An dieser Stelle möchte ich, ausnahmsweise etwas persönlicher als das sonst der Fall sein wird, davon berichten, wie ich zu dem integralen Ansatz fand beziehungsweise dieser mich. Noch einmal vielen Dank an die Person, die mir diese Frage in der Facebookgruppe zu Gott 9.0 gestellt hat.

Gelb, blau, rot, purpur:

Im Folgenden begegnen euch viele Farben. Es handelt sich um den Code von Spiral Dynamics. Dazu siehe auch meinen und andere Artikel dazu.

Vorneweg: Auch ich denke bei starkem Hunger nahezu ausschließlich beige daran, wo und wie ich am schnellsten an etwas essbares herankomme. Und als ich mich in akuter Lebensgefahr wähnte, war ich purpur froh, von meinen orthodoxen Glaubensbrüdern und -schwestern gelernt zu haben, wie man sich durch eine Ikonen und das Bekreuzigen vor dem Teuflischen schützt. Und an schlechten Tagen kann ich ganz schön rot trotzig und zornig sein. Und … ich glaube, ihr habt den Punkt?

Ich glaube nicht, dass ein Mensch es schafft, immer gelb zu denken. Oder dass das überhaupt ein anzustrebendes Ziel wäre. Genauso wenig wie ein Mensch nur blau, nur grün, nur purpur denkt.

Doch weiter: Vielleicht kennt auch ihr das Phänomen, das ihr etwas sucht, und stattdessen etwas gänzlich anderes findet?

Jesus soll gesagt haben: „Wer sucht, der findet“. Meiner Erfahrung nach finden uns die Ideen und Inhalte, wenn wir bereit für sie sind und nicht unbedingt dann, wenn wir bewusst danach Ausschau halten.

In meinem Theologiestudium herrschte vorwiegend orangenes Denken vor. Jeder wusste es besser als der andere und um das zu zeigen, bediente man sich der wissenschaftlichen Methode. Wer anders dachte als man selbst, war einfach ein bisschen dümmer. Um voranzukommen, bewies man Anpassungsfähigkeit, selbstgewisse Dominanz in Diskussionen und Pragmatismus.

Einige Mitstudenten steckten allerdings so tief im blauen Mem, das es mir zunächst so schien, als müssten alle Kräfte eingesetzt werden, auch diesen Menschen den Sprung ins orangene Mem zu ermöglichen. Damit meine ich, dass die einfachsten Annahmen der Aufklärung nicht wirklich akzeptiert wurden. Das „WORT“ hatte immer Recht. Auch wenn man gar nicht verstand, wie man verstand und was man da nicht verstand. Punkt. Aus.

Erst später habe ich festgestellt, dass diese Grabenkämpfe zwischen liberal und evangelikal eine gute Vorbereitung auf weitere Grabenkämpfe in den Gemeinden war.

Nach meinem Studienaufenthalt in Weißrussland mit dem Flair der Sowjetunion war mir klar, dass ich – entgegen meinen früheren Überzeugungen – nicht mehr links sein kann. Weder links, noch rechts, noch Mitte. Ich hatte all diese Kategorien als Heimat verloren. Dafür hatte ich das purpurne und blaue Mem aus einer ganz anderen Perspektive kennen und verstehen gelernt: Weihung von Studentenzimmern durch Geistliche, Vorlesungen über Dämonologie mit eigenen Erfahrungsberichten, die Verehrung von Patriarchen und Ikonen, das Auswendiglernen von Kirchenväterzitaten u.v.m. Und ich lernte das Herzensgebet kennen, das Mantraartige Wiederholen von Jesus Namen.

Durch die großen russische Religionsphilosophen hatte ich gleichzeitig den ersten Hauch von gelb geschnuppert: Ich fing an, paradoxes, multidimensionales Denken zu lieben.

Und da fand mich ein Artikel von Wulf Mirko Weinreich, „Eine kurze Sicht des Marxismus aus integraler Sicht“. Ihr findet ihn und vieles andere lesenswerte unter folgender Adresse:

http://www.integrale-psychotherapie.de/ticker.html

Allerdings machte die Theorie von Wilber zunächst auf mich den Eindruck einer seltsamen esoterischen Sonderlehre und ich hörte auf, mich weiter damit zu befassen.

Schließlich fand ich in der ökumenischen Bewegung Menschen, die vorwiegend grün dachten. Das machte sie zu wesentlich angenehmeren Zeitgenossen als viele meiner Kommilitionen oder Professoren es waren. Sie suchten nach Harmonie, trugen Fair Trade Kleidung, sprachen kollektive Schuldbekenntnisse und setzten sich für das ein, was Christen über die Konfessionen hinweg verbindet: Der Kampf für Menschenrechte, für die Umwelt, für den Frieden weltweit. Auch mein Veganismus stieß auf mehr Verständnis. (Heute bin ich übrigens Flexitarierin, vielleicht auch ein Resultat gelber Anpassungsfähigkeit 😉)

Jahre später stieß ich – an Zufall glaube ich nicht, wenn alles mit allem zusammenhängt – auf die Live Coaching Plattform Human Trust, die von Veit Lindau gegründet wurde. Da ich etwas in meinem Leben verändern wollte, meldete ich mich trotz anfänglichem Misstrauen an. Dort erfuhr ich, dass sein Coaching Ansatz auf der integralen Theorie von Ken Wilber basiert. Und wenn ich einen Namen mehr als einmal höre, überkommt mich eben die Neugierde 😉

Seitdem ich Ken Wilber und Spiral Dynamics selbst gelesen habe, hat mich etwas gepackt. Ich genieße die neuen Wege und Räume im Denken, die ich durch diesen Ansatz dazu gewonnen habe.

Ein gelb denkender Mensch darf und kann immer auf die anderen Ebenen zurückgreifen, wenn es die äußeren Umstände angemessen oder gar notwendig erscheinen lassen und muss nichts abwerten.

Deshalb entspannt nichts tiefgreifender als gelbes Denken. Ich muss nicht mehr alles wissen. Ich muss nicht Recht haben. Ich muss gar nichts.

Ich darf. Und deshalb tue ich es. Ganz bewusst.

Mehr dazu und warum das nichts mit Beliebigkeit zu tun hat, an anderer Stelle.

Vielleicht wollt ihr auch kurz berichten, was ihr am gelben Denken schätzt oder wie ihr auf den integralen Ansatz gestoßen seid?

 

 

8 comments

  1. Ich bin auf SD in meiner Supervisionsausbildung gestossen (nicht in meinem Theologiestudium, aber das ist auch schon eine Weile her). Im Supervisions-Kontext (in der nicht-kirchlichen Szene!) später auch auf Gott 9.0, das mich sehr fasziniert hat. Das hat mein Denken (und auch mein Gottesbild) sehr erweitert, was meine Arbeit im Gemeindepfarramt nicht unbedingt erleichtert. Seither taste ich mich vorsichtig an Ken Wilber und Integrales Denken heran (habe Integrale Lebenspraxis gelesen und bin jetzt an „Integrale Meditation“). Insofern könnte ich auch sagen, dass ich „gelb“ denke.

    1. Danke, Nicole für das Teilen deiner Erfahrungen! Ja, ich weiß auch noch aus eigener Erfahrung, dass das neue oder andere Denken einen selbst zwar sehr freut, der Gemeindealltag dadurch aber nicht leichter wird und die Vermittlung schwerfällt. Da liegt ein spannender Weg vor uns.

  2. Ich habe im Lauf der vergangenen Jahre und Jahrzehnte eine Reihe von Systemen kennengelernt – psychologische wie Enneagramm und MBTI, entwicklungspsychologische wie Fowler und Nipkow und verschiedene andere. Sie alle haben meinen Blick geweitet, und ich bin auf neue Zusammenhänge aufmerksam geworden. Auch Gott 9.0 fand ich sehr faszinierend.
    Und doch bleibt auch ein Unbehagen. Marion Küstenmacher schreibt zwar, dass ab Gelb 7.0 die eigenen Dualismen und Abwertungen überwunden werden. Doch subtil kommt immer durch, dass die ersten 6 Stufen doch irgendwie was für Anfänger sind. Und dass es unser aller Ziel sein sollte, auf der Jesus-Stufe (Grenzüberschreitung) anzukommen.
    Dabei bin ich mir gar nicht so sicher, ob das in jedem Fall (z.B. in der Flüchtlingsfrage oder auch im Gemeindealltag) immer so günstig ist. Denn war für mich vielleicht gut ist, muss es noch längst nicht für andere sein.

    1. Lieber Erik, danke für das Teilen deiner Erfahrungen und Bedenken! Ich will diese Problematik gerne demnächst einmal in einem Beitrag aufgreifen, die du ansprichst. Denn sie erscheint mir sehr wichtig. In Kürze: Ich denke so, dass niemand gesund gelb denken kann, der nicht voll und ganz immer wieder im Grünen ankommt etc. Spiral Dynamics schreiben ja, dass es nicht möglich ist, eine Stufe auszulassen. Und je nach Situation greift das „gesunde“ Gelb auf die anderen Stufen zurück, dh. es zeichnet sich durch eine enorme Flexibilität und erweiterte Handlungsmöglichkeiten aus. Es muss, zum Beispiel angesichts der Flüchtlingsfrage, auch immer wieder zurückkehren, zB. nach beige, um die Überlebensnot des anderen überhaupt nachvollziehen und mitfühlen zu können etc. Ich hoffe, es ist ein wenig verständlich, was ich meine?

  3. Das verstehe ich durchaus – und dass es eine Kunst ist, die unterschiedlichen Farben den verschiedenen Lebenssituationen zuzuordnen.
    Aber was meint Ihr damit, dass Euch die Erkenntnisse in SD die Arbeit in der Gemeinde schwerer machen? Ist es nicht umgekehrt eine Hilfe, die unterschiedlichen Glaubensweisen zu verstehen und zu akzeptieren? Oder habt Ihr den Anspruch, die Gemeinde oder zumindest Mitglieder der Gemeinde auf eine nächsthöhere Farbe zu hieven?

    1. Ja und Nein. Ja, es kann auch hilfreich sein. Und nein, es kann auch dazu führen, dass es schwerer fällt sich zu verständigen. Und Kommunikation ist ja das A und das O im Pfarramt. Und nein, mit diesem Anspruch würde sich jeder wohl völlig übernehmen, aber es ist nur logisch, dass man einmal von gelb „angesteckt“ nicht wieder so predigen kann, dass es jemandem, der tief in blau steckt, gefällt, sondern gegenüber diesem Menschen aneckt, ins Stottern kommt und gleichzeitig versucht, Impulse in Richtung andere Sichtweisen zu setzen. Oder dass man mehr (mit) leidet, weil man quasi aus einer Art Metaperspektive sieht, wie manche sich durch ihr Denken selbst begrenzen oder gar schaden etc. Ich kann das tatsächlich nicht in allen Einzelheiten benennen – das kann sicher ein Pfarrer, der gerade in Dienst ist, leichter – bei mir ist das ist auch viel Gefühlsache: Sich fremd, anders, komisch fühlend. Und durch die integrale Theorie habe ich für mich jetzt eine Erklärung gefunden, warum das bei mir so war. Danke für die Frage!

      1. Bei genauerem Hineinüberlegen verstehe ich das auch nicht so richtig, dass Arbeit in und für die Gemeinde aus einem gelben Werteraum schwerer sein sollte. (Zuerst dachte ich dabei an die Zeichnung, die Frau Kistenmacher in einem ihrer Vorträge zeigte. Darauf ist eine Person in einer Gruppe abgebildet, die im Sinne von SD weiter entwickelt als die anderen ist. Sie hat einen großen Anteil von Grün und auch schon Einiges von Gelb, während die anderen fast nur blau „gefärbt“ sind.) Es kann natürlich auch sein, dass mensch sich einsam fühlt, wenn er/sie der/die Einzige auf seiner/ihrer Stufe ist. – Dabei wird doch immer wieder betont, dass Gelb sozusagen mit allen und auf alles kann, eben weil es an die anderen Werteräume anschlussfähig ist. Woher sollen denn dann die Kommunikationsprobleme kommen? Gelb ist sich doch bewusst, dass Gleichzeitigkeiten von Gegensätzen, Widersprüche, Paradoxien von den anderen, die noch nicht gelb sind, (noch) nicht gedacht/gefühlt/gelebt werden können. Es überfordert die anderen in der Gruppe dementsprechend auch nicht, oder? Vielleicht ist Gelb aber in dieser Hinsicht noch nicht soweit, und diese Fähigkeit erscheint erst mit Türkis… In mir wächst aber auch noch ein ganz anderer Verdacht: Wir, dir wir uns ja so gern für gelb halten, sind es weit weniger als wir uns das zuschreiben. Ich neige mittlerweile zu Letzterem. Dazu passt sehr gut der Artikel von Jascha Rohr: http://www.jascha-rohr.de/?p=4594&fbclid=IwAR284sILTLl8lIDGGwKjXlvatEhkd5NNrTn5Iu4BVOTtpJHcOvPtBRyrz4Q

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