Steckt die integrale Theorie Menschen in Schubladen?

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Manche lehnen die integrale Theorie ab, weil sie meinen, diese stecke Menschen in Schubladen. Nun, das kann man tun. Allerdings sollte man sich dabei bewusst sein, dass man damit die Sinnhaftigkeit und Existenzgrundlage der Entwicklungspsychologie als solches ablehnt, also einen empirisch belegten Wissenschaftszweig. Denn schließlich handelt es sich in beiden Fällen um Modelle. Und ich wüsste nicht, wie man Modelle aufstellen können sollte, wenn nicht durch “Schubladen“, d.h. Kategorisierung. Klar kann man auch den Menschen überhaupt als Forschungsobjekt ablehnen, mit dem Argument, dass eine Verobjektivierung dem Subjekt Mensch nie gerecht werden kann, dass es eine Subjekt-Subjekt Begegnung auf Augenhöhe braucht…

Doch aus meiner Sicht sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie viel zu spannend und aufschlussreich, als dass ich auf diese verzichten wollte. Schon allein wenn ich daran denke, wie viel diese Erkenntnisse dazu beigetragen können, unseren Erziehungsstil zu verändern. Wenn wir ein bisschen mehr darüber wissen, wie sich ein kleines Kind entwickelt, gehen wir gänzlich anders mit ihm um. (Vgl. dazu den Bestseller „Oje, ich wachse! Von den acht “Sprüngen” in der mentalen Entwicklung Ihres Kindes während der ersten 14 Monate und wie Sie damit umgehen können.“ von Hetty  van de Rijt und Frans X. Plooji, 1998).

Wer selbst Kinder hat, kennt vermutlich die Erfahrung, dass das Denken des Kindes mitunter durch seine Andersartgkeit befremden kann (z.B. „wenn ich niemanden sehe, sieht mich auch niemand“ oder „wenn die Mama das Zimmer verlässt, ist sie weg“). Eine Konsequenz daraus könnte sein, dass ich das Kind nach Möglichkeit nicht mehr alleine lasse, solange es kognitiv noch nicht in der Lage ist, zu verstehen, dass die andere Person auch noch existent ist, wenn sie sich im anderen Raum befindet.

Auch aus den offiziellen Lehrplänen der Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten sind die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie nicht mehr wegzudenken, weswegen jeder angehende Lehrer oder Erzieher Kenntnisse in diesem Bereich nachweisen muss.

Und: Heute wissen wir, dass sich ein Mensch und seine Art zu denken nicht nur im Kindesalter entwickelt, sondern ein Leben lang. Sich dessen ständig bewusst zu sein, kann so manches zwischenmenschliche Missverständnis verhindern oder im Nachhinein aufhellen. Gerade wenn es um Glaubensinhalte oder Weltanschauungen  geht, können wir im Gespräch unschwer feststellen, dass sich hier nicht nur die Inhalte, sondern auch die Art und Weise zu denken mitunter drastisch unterscheiden kann. Einfachstes Beispiel ist ein Mensch, der  tief in einem „Schwarz-Weiß-Denken“ gefangen ist. „Entweder du liebst mich und heiratest mich sofort oder ich bin dir sch…egal.“ oder „Entweder kommt ein Mensch in den Himmel oder in die Hölle.“

Wenn ich meinen Mitmenschen ein bisschen einordnen kann, verstehe, wie er „tickt“, gehe ich anders – und ich würde sagen „verständnisvoller“, auch wenn dieses Verstehen häufig erst wachsen muss – mit ihm um. Das gilt selbstverständlich auch in Bezug auf den Umgang mit mir selbst, wobei wir hier mit vielen blinde Flecken rechnen dürfen. Fast jeder wähnt sich gerne reif, weise und lebenserfahren. Das sagt jedoch nichts über den tatsächlichen Reifegrad oder die Entwicklungsstufe aus.

Gefährlich wähnt mir lediglich, wenn wir einen Menschen dergestalt in Schubladen stecken, dass wir ihm  sein Entwicklungspotential absprechen und uns nicht weiter mit ihm auseinandersetzen wollen, ihn also „festnageln“. Doch da sagt die Entwicklungspsychologie  und im Anschluss die integrale Theorie genau das Gegenteil: Sie behauptet ja gerade oder stellt fest, dass der Mensch wesentlich auf Entwicklung angelegt ist und das lebenslang.

Im Übrigen ist es wesentlich leichter zu sagen: „Menschen sind viel zu verschieden und zu komplex, um sie einteilen zu können“ als sich um das Verständnis der dahinterstehenden Erkenntnisse zu bemühen und uns bei jedem Menschen, den wir treffen, erneut zu fragen, in welcher Phase sich dieser wohl gerade befindet, welche Bedürfnisse daraus erwachsen und wie möglichst angemessen mit ihm kommuniziert werden sollte etc. Aus meiner Sicht führt die Auseinandersetzung mit Modellen nicht zu primitiver Vereinfachung, sondern im Gegenteil zu einer vertieften Wahrnehmung von bestehender Komplexität.

Über einzelne Vertreter der Entwicklungspsychologie und deren Forschungen werde ich bald mehr schreiben.

Was meint ihr?

 

 

 

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