Vor einiger Zeit schrieb mir eine Frau als Antwort auf die Frage nach einem guten Erziehungsratgeber, sinngemäß, das wichtigste sei doch, dass ich einfühlsam sei und es gut meine. Vielleicht hatte sie die Befürchtung, dass es mir so ergeht wie vielen Eltern, dass uns nämlich häufig die vielen Tipps und Tricks der anderen mehr verwirren und verunsichern als weiterzuhelfen. Und weil jedes Kind anders ist und anderes braucht, scheint Einfühlung zunächst eine gute Idee zu sein…doch:
Da beginnt das erste “Problem”: Da ich und mein Kind uns in völlig unterschiedlichen Entwicklungsstufen befinden und die Welt um uns auf andere Weise wahrnehmen und deuten, kommt meine Einfühlung recht schnell an ihre Grenzen. Da lobe ich mir dann doch die moderne Gehirn- und Verhaltensforschung, die mir erklärt, warum mein Kind so tickt wie es tickt. Gute Erziehungsratgeber wissen diese Erkenntnisse so zu erklären, dass vieles sich auf einmal anders verhält als es zunächst schien. (Zum Beispiel, wenn wir Absichten unterstellen oder korrektes Verhalten abverlangen, die das Kind nicht haben oder noch nicht leisten kann.)
“Bewusste Elternschaft” ist für mich allerdings weit mehr als die gründliche Lektüre moderner und gut fundierter Erziehungsliteratur und das Wissen um Entwicklungspsychologie. Sie beginnt für mich zunächst mit der äußerst spannenden und wichtigen Frage, warum ich/wir überhaupt ein Kind haben will/wollen und wie ich mir ein Leben mit Kind/ern vorstelle. Soll das Leben im Wesentlichen so weitergehen wie bisher – mit einer netten “Ergänzung” oder einem neuen “Hobby” – oder bin ich bereit, mein Leben, unsere Beziehung, mein Denken, weiter wachsen und umkrempeln zu lassen?
Wenn wir bereit sind, uns voll und ganz auf unsere Kinder einzulassen, für deren Wohl wir verantwortlich sind, kommen unweigerlich bestimmte Fragen auf:
Was braucht das Kind von mir? Was muss, was kann ich ihm geben? Welche Bedürfnisse hat es? Wie will ich erziehen? Was für Werte will ich vermitteln, was will ich vorleben, wo liegen meine Grenzen, was sind meine Bedürfnisse? etc.pp.
In “Integrale Lebenspraxis, Wilber, Patten, Leonard, Morelli” äußern sich die Autoren auch zum Thema “Bewusste Elternschaft” (S. 352f.):
Ein Kind zu einem bewussten, liebevollen, fähigen und glücklichen Menschen großzuziehen, ist eine der wichtigsten und schwierigsten Leistungen im Leben… Durch bewusst praktizierte Elternschaft entwickeln wir sehr viel Weisheit und Mitgefühl.
Eltern werden oder sein ist mindestens so herausfordernd für unsere Entwicklung wie eine Partnerschaft oder das Leben in einer Klostergemeinschaft. Im Umgang mit unseren Kindern werden wir wieder und wieder mit uns selbst konfrontiert.
Und dann haben wir die Wahl: Reagieren wir mit “Augen zu und durch, sie werden es überleben, irgendwann sind sie so oder so groß, können reden und gehen usw.” oder lassen wir zu, dass unsere Kinder uns mehr und mehr auf neue Fragen stoßen und Dinge ins Bewusstsein bringen, von denen wir nie ahnten, dass sie existieren, eine Rolle spielen, möglich sind?
In dem Spiegel-Bestseller “Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn” schreiben die Autorinnen Danielle Graf und Katja Seide:
“(…) die Wut der Eltern trägt mindestens ebenso zu den klassischen Trotzmomenten bei wie die noch fehlenden neurologischen Voraussetzungen der Kinder. Man könnte sogar behaupten, dass viele Streitsituationen im Alltag nur deshalb entstehen, weil die Eltern trotzig sind. Dass bisher kein Ratgeber zum Trotzalter diese Wut der Erwachsenen thematisiert, ist unseres Erachtens Ausdruck für den (…) Blickwinkel der Gesellschaft auf Kinder. Diese müssen sich ändern, sich anpassen und erzogen werden, wohingegen Erwachsene per se im Recht sind und deshalb nicht an sich arbeiten brauchen.”
Die angesprochene Einstellung ist fatal. In der Trotzphase werden wir nicht nur mit der Wut unserer Kinder, sondern auch und ganz wesentlich der eigenen verdrängten und unterdrückten Wut konfrontiert, die oft noch aus unseren Kindertagen in uns schlummert. Diese Erfahrung mache ich gerade durch und ich kann sagen: Da kommt einiges hoch.
Eigentlich logisch: Steckt das Kind in einer bestimmten Entwicklungsphase, kommen bei uns unweigerlich Erinnerungen aus unserem eigenen Leben wieder an die Oberfläche: An die Trotzphase, die Grundschulzeit, die Pubertät etc.
Die Frage ist jedoch: Nutzen wir diese Zeit ausreichend, an uns und damit unserem Umgang mit unseren Kindern zu arbeiten oder versuchen wir unsere Kinder so zu erziehen, dass wir möglichst unverändert so bleiben können, wie wir sind?
In letzterem Fall werden wir kaum ohne die herkömmlichen Erziehungsmethoden wie “Lob” und “Tadel”, “Belohnung” und “Bestrafung” auskommen. Was ist das Problem an dieser Art der Erziehung?
- Sie ist für beide Seiten anstrengend und führt zu Stress und Streit.
- Sie führt zu Entfremdung zwischen Eltern und Kind und dem Kind sich selbst gegenüber. Hans-Joachim Maas schreibt in seinem Buch: “Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm”:
In der Folge des Liebesmangels lernen Kinder allmählich herauszufinden, wofür sie Anerkennung und Zuwendung von den Eltern bekommen können. Damit beginnt ein lebenslang anhaltender Prozess der Entfremdung: Man tut nicht mehr, was wirklich zu einem passt und individuell möglich ist, sondern was erwartet wird, um über die Anpassung Bestätigung zu erfahren. Ein Leben neben der Spur! Lob und Tadel sind die Erziehungsinstrumente, die das falsche Selbst züchten.
Ruth berichtet auf ihrem Blog, von ihrer Reise weg von Erziehung zu einem Elternsein, dass sie “unerzogen” nennt. Für Eltern bietet sie einen Wutkurs und eine “Elternakademie” an, in der sie Alternativen dazu vermittelt.
Sie schreibt treffend:
Wenn du deinen Scheiß überwinden willst, um näher an deinen Werten deine Kinder zu begleiten, ist das schwer. (…) Niemand bekommt das mal so eben hin, der erzieherischer Gewalt ausgesetzt war.
Nimm dir deine Zeit. Hör auf, deine Kinder irgendwo einzuordnen und gib dir den Raum, zu heilen.
Denn am Ende bedeutet bedürfnisorientierte, friedliche Elternschaft genau das: Sich selbst den Raum zum Heilen zu geben.
Sie unterstreicht, dass es sich bei der klassischen Erziehungsmethode “Belohnung” und “Bestrafung” um eine Form der seelischen Gewalt und Manipulation handelt. Da dies jedoch vielen nicht bewusst ist – oder nicht so gesehen wird – haben die meisten von uns selbst als Kinder nichts anderes kennengelernt. Wenn wir nun selbst wiederum Kinder großziehen, ist die Gefahr groß, dass wir trotz guten – möglicherweise gegenteiligen Vorsätzen – auf alte Muster zurückgreifen, die uns vertraut sind und daher nahe liegen. Ganz besonders ist das der Fall in Momenten der Überforderung oder Übermüdung. So setzt sich die Gewaltspirale fort.
Ihr erinnert euch: Die oben genannte Frau riet mir mit Einfühlungsvermögen und gutem Willen zu handeln. Doch: Wenn wir derart unbewusst “erziehen”, verwechseln wir innere Weisheit mit dem, was noch an angelernten Programmen in unserem Unbewussten schlummert.
D. Graf und K. Seide warnen ganz zu Recht:
Wenn Eltern also nach ihrem Bauchgefühl handeln, erziehen sie im Prinzip unbewusst genauso, wie ihre Großeltern und Eltern erzogen haben. Diese Tatsache ist gut und schön, wenn man selbst eine feinfühlige, emphatisch reagierende Mutter hatte, die alle Signale zeitnah und richtig entschlüsseln konnte und Bedürfnisse liebevoll befriedigt hat. Ist man jedoch in Europa aufgewachsen und die Vorfahren entstammen einer Generation, die mit der schwarzen Pädagogik aufwuchs, ist es vielleicht nicht schlecht, sein eigenes Bauchgefühl noch einmal zu überdenken (…) (S. 71f.)
Kinder großziehen bedeutet also: In die eigene Kindheit zurückzureisen, sich möglichem altem Schmerz zu stellen, Erziehungskonzepte und Vorstellungen davon, was Kinder sind und wie sie zu sein haben, loszulassen. Immer wieder neue Fragen haben, nach Lösungen suchen und diese dann so zu leben, wie ich es derzeit verantworten kann.
Es ist eine Reise, und sicher auch eine Reise zu mir selbst. Geholfen haben mir selbst bis jetzt gute (d.h. wissenschaftlich fundierte und (selbst)kritische) Ratgeber, der Austausch mit anderen Frauen und immer wieder ein klärendes Gespräch mit meinem Mann oder meiner eigenen Mutter. Doch ich komme immer wieder an meine Grenzen.
Und vielleicht passt das Kind, dass dann herauskommt, gar nicht in diese (alte) Gesellschaft. Aber wer weiß – vielleicht ändert sich ja auch die Gesellschaft irgendwann und irgendwie durch solcher Art Kinder?
Und ihr? Welche Erfahrungen macht ihr als Eltern oder auch Großeltern mit diesem Thema?
Gerade aus der authentisch-religiösen Ecke gibt es radikalere Haltungen. Der indische Meister Sadhguru (für mich der mächtigste Mensch zur Zeit auf dem Planeten) sagt zB: um ein Kind zu erziehen, braucht man entweder enormen Mut [um sich nicht einmischen zu können], oder enorme Weisheit [um durch tiefe Einsicht in das Kind es angemessen führen zu können]. Entweder – oder. Das Problem nach Ihm ist, dass für gewöhnlich dazwischen agiert wird, d.h. man mischt sich in die Belange des Kindes ein (damit ist natürlich nicht Zähneputzen usw. gemeint), man drückt ihm den eigenen Stempel auf, aber eben ohne die notwendige Einsicht in es zu haben. Das Resultat ist, dass sich die Vergangenheit in unseren Kindern wiederholt.
Davon abgesehen, das ein konsequentes Nicht-Einmischen sehr viel Disziplin erfordert (nur allzugern möchte man dem Kind Dinge anerziehen, die meistens bei einem selber schon nicht funktioniert haben), macht es einem das System nicht einfacher, v.a. die Schulpflicht in Deutschland. Wäre die Schule der “neuen” Zeit angemessen, wäre die Pflicht kein Problem. Unser Schulsystem legt aber sein Hauptaugenmerk auf den Intellekt, es geht darum, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Wissen in junge Gehirne zu bringen. Das ist eine Art der Einmischung erster Klasse. Was früher überwiegend positiv und notwendig war (als die Eltern noch Analphabeten waren und das Wissen nicht überall rumgelegen ist), ist heute überholt, und entspricht aus religiöser Sicht einem eingeschränkten Menschenbild. Die nächste Stufe würde bedeuten, nicht mehr den Intellekt, sondern das Bewusstsein zu betonen. Das heißt konkret: Inspiration, Kreativität, Intelligenz, auch vertiefte Konzentrationsfähigkeit. Aber eine jahrelange Stopfung der jungen Menschen mit Wissen lässt diese Dinge eher verkümmern. Ganz verschütten lässt sich Bewusstsein nicht, und es ist möglicherweise wirklich das beste für eine natürliche Entwicklung, wenn Eltern und die Gesellschaft sich nur um eine freudige und liebevolle Umgebung für die Kinder bemühen, und jede Einmischung auf ein Mindestmaß reduzieren. Ein solcher Mut könnte sich absolut bezahlt machen!
Lieber Eduard, was die Schule betrifft stimme ich dir voll und ganz zu. Was den Spruch des indischen Meisters Sadghuru angeht, so hoffe ich, dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt, nämlich die der Gnade und Vergebung ;-), wenn man sich redlich bemüht, sich weder zu sehr einzumischen, noch Unterstützung zu versagen, wo sie notwendig ist und es eben dennoch “menschelt”. Vielleicht ist es auch gar Teil des “Plans”, dass sich die Vergangenheit durch die Kinder in gewisser Weise wiederholt… (die sog. “Erbsünde”) und wir als Eltern eben nicht perfekt sind?
Liebe Sandra,
ich denke es geht nicht um perfekt oder nicht, sondern dass sich Eltern im Klaren sind über das, was einen Menschen, und damit auch das Kind, wirklich ausmacht. Es geht um einen Paradigmenwechsel von Wissen zu Bewusstheit. Wissen, oder die Betonung des Intellekts, kann streng genommen nur bereits Gewusstes reproduzieren, und dagegen ist es Bewusstheit, die Neues schaffen kann, oder wenn man so will das “Genius” im Kind. Die Betonung der Nicht-Einmischung deswegen, weil man diese Bewusstheit nicht machen kann, man kann eben nur ein förderliches “Ökosystem” schaffen, in dem sich das Kind nach seinem eigenen Plan entwickeln kann. Aber ich finde es ist spürbar, wieviel Mut das benötigt (vielleicht will man nichts falsch machen, die Kontrolle nicht verlieren, die Zukunft des Kindes nicht verbauen, usw.). Auch was speziell religiöse Erziehung angeht ist dieser Meister hier äußerst zurückhaltend (weil Du die Erbsünde erwähnt hast ;-), vielleicht wird das deutlich… es gab mal ein wunderbares Video darüber, wie Er das mit seiner Tochter gemacht hat. Das hier hab ich noch gefunden https://www.youtube.com/watch?v=DSAe3ZzMSDs
hier noch kurz über kindliche Intelligenz https://youtu.be/A6UVzk03GWw?t=404