Warum wir krank werden

Veröffentlicht von

Wieder habe ich „Ken Wilber“ in einem Bibliothekskatalog unter der Kategorie „New Age“ gefunden. So etwas ärgert mich. „New Age“ ist eine Sammelbezeichnung aus den 70er Jahren für verschiedene esoterische oder alternative Strömungen. Und Ken Wilber ist ganz sicher kein Vertreter dieser Strömungen, sondern einer ihrer schärfsten Kritiker.

Ich möchte das heute an einem Beispiel verdeutlichen: Der Entstehung von Krankheiten.

Eine Tendenz innerhalb des New Age war und auch moderner alternativer Spiritualität ist es, als Ursache für Krankheit in erster Linie, wenn nicht gar ausschließlich psychische Faktoren geltend zu machen. Häufig paart sich das mit der Überzeugung, das überhaupt generell alles, was wir erleben, schlussendlich auch wir selbst – unser Ego-Bewusstsein – geschaffen haben. Und das ist schlicht einseitig. Das lässt sich anhand Ken Wilber Quadrantenmodell leicht erkennen: Alles wird auf den Quadranten oben links reduziert: „Quadrantenabsolutismus“ pur.

In der Facebookgruppe des Integralen Forums hat neulich jemand allen Ernstes behauptet, dass es Unsinn sei, Kinder zu impfen, da alle Krankheiten psychisch bedingt seien. (!!)

Aus der Erkenntnis „Psychische Faktoren spielen eine wichtige Rolle bei der Entstehung von Krankheiten“ wird ein „Krankheiten sind immer selbstgemacht“.

Wenn aber eine Krankheit auftaucht, dann ist es immer eine Botschaft der Seele. Eine andere Ursache für eine Krankheit gibt es nicht.

http://www.spirituelle.info/artikel.php?id=39

Mit jeder Erkrankung will Ihr Unterbewusstsein Ihnen etwas sagen… Goldene Regel: Suchen Sie nach der Botschaft, die in Ihrer Krankheit stecken kann.

https://www.simplify.de/gesundheit/weitere-gesundheitstipps/artikel/die-geheimsprache-der-krankheit/

Das hört sich zunächst verlockend an. Denn es ist so schön einfach: „Finde heraus, was deine Seele dir sagen will, und schon wirst du wieder gesund.“

Der Bestseller Autor Rüdiger Dahlke ordnet in seinen Büchern „Krankheit als Symbol“, „Krankheit als Sprache der Seele“ und „Krankheit als Weg“ jeder Krankheit passende Seelenthemen zu.

Das kann in der Tat sehr hilfreich sein. Langjährige psychosomatische Forschung hat außerdem ergeben, dass der Einfluss des Geistes auf unseren Körper ungeahnt groß ist (Placebo-Effekt, Psychoneuroimmunologie und die Rolle von emotionalem Dauerstress etc.)

Nur ist es eben gefährlich einseitig. Und es kann schnell „kippen.“ Was, wenn dein Ehepartner plötzlich an Krebs erkrankt und nicht wieder gesund wird? Wirst du ihm dann insgeheim vor, es läge nur daran, dass er sich seinem „Seelenthema“ nicht stellt?

Im Grunde sagte ich nicht: „Ich nehme Anteil an deiner Not, wie kann ich helfen?“, sondern „Was hast du falsch gemacht? Wo hast du versagt?“ Und nicht zuletzt: „Wie kann ich mich selber schützen?“ Angst, also uneingestandene Angst, war das, was mich trieb…

Treya Wilber, Mut und Gnade

Kurz nach seiner Hochzeit mit Terry Killam erfährt Ken Wilber, dass sie Brustkrebs hat. Das sehr persönliche Buch „Grace and Grit: Spirituality and Healing in the Life of Treya Killam Wilber (Mut und Gnade)“ berichtet von ihrer gemeinsamen Zeit und der Erkrankung, die sie schließlich das Leben kostet. Die Ereignisse werden dabei jeweils abwechselnd aus Kens Sicht und der seiner Frau geschildert.

Sie schreibt:

„Die ganze Logik mit der Selbstverursachung meiner Krankheit(en) steht wieder auf der Tagesordnung. Wer Gegenstand solcher Theorien ist oder selbst über sich theoretisiert, sieht die Frage der Verantwortung häufig unter dem Gesichtspunkt der Schuld: „Was habe ich falsch getan, daß ich so was verdiene?“ (…) Ich habe diese „Logik“ manchmal auf mich selbst angewendet. Auch Freunde sind darin sehr eifrig. Ich habe es bei meiner Mutter gemacht vor achtzehn Jahren, als sie Krebs bekam, und ich kann mir vorstellen, daß sie sich ein bißchen vergewaltigt fühlte – und wie recht sie hatte… Deshalb sage ich immer wieder, daß Krankheiten meiner Überzeugung nach viele Ursachen haben – erbliche Belastung, Ernährung, Lebensweise, Persönlichkeit; wer aber sagt, daß einer dieser Faktoren der einzig wichtige sei, daß die Persönlichkeit allein die Erkrankung herbeiführe, der übersieht, daß wir zwar unsere Reaktion auf das, was uns geschieht, steuern können, nicht immer jedoch das Geschehen selbst. Dieser Wahn, daß wir all das, was uns geschieht, selbst initiiert haben, ist so destruktiv, so aggressiv.“

Im Zuge der Erkrankung setzen sich Ken und Treya intensiv mit den verschiedenen Erklärungsmodellen für Krankheiten auseinander.

Die Fundamentalisten sähen Krankheit als Strafe Gottes für irgendeine Sünde. Die New Age Leute sehen die Krankheit als eine Lektion des Geistes, durch die wir etwas lernen sollen. Psychologen sehen die Krankheit als eine Folge verdrängter Emotionen. Diese Erklärungsmodelle lassen sich dem linken Quadranten zuordnen.

Schulmediziner sehen v.a. biologische Ursachen (Viren, genetische Veranlagung, Umweltfaktoren, Ernährungsweise). Andere sehen die Krankheit als Folge von schlechtem Karma, also einem fehlerhaften Handeln aus einem früheren Leben. Diese Erklärungsmodelle lassen sich dem rechten Quadranten zuordnen.

Eine ganzheitliche Sicht sieht die Krankheit als ein Produkt all dieser Faktoren: Emotionen, Seelenthemen, körperliche Veranlagung, Lebensweise, zwischenmenschliches Umfeld, gesellschaftlicher Umgang mit der Krankheit, Zugang zu medizinischer Versorgung etc.

Quadrant Krankheitsentstehung

Jesus hatte all diese Faktoren im Blick:

  • Er fragte die Kranken „Willst du gesund werden?“ Er wusste also, dass die Psyche des Kranken einen entscheidenden Einfluss auf den Verlauf der Krankheit haben kann. (Quadrant links oben)
  • Er wandte sich den Kranken zu, weil er um die Bedeutung zwischenmenschlicher Faktoren wusste – z.B. galten Leprakranke als „unrein“ oder Kranke allgemein als „Sünder“. (Quadrant links unten)
  • Er übte Systemkritik, indem er z.B. ganz umsonst heilte, ohne Geld zu verlangen oder dem Sabbat keine Beachtung schenkte, wenn es um die Gesundheit eines Menschen ging.(Quadrant rechts unten)
  • Und viele Menschen waren Zeuge davon, dass er andere Menschen wirklich gesund machte, wenn auch bis heute rätselhaft bleibt, auf welche Weise. Vermutlich werden wir durch die Fortschritte in der medizinischen Forschung irgendwann besser in der Lage sein, dies zu erklären. (Quadrant rechts oben)

Ihr kennt sicherlich alle die Stelle im Johannesevangelium (Kap. 9), wo Jesus einen Menschen trifft, der seit seiner Geburt blind ist. Seine Jünger wollen wissen, wer Schuld hat, er oder seine Eltern. Dahinter steht der Glaube, dass jede Krankheit selbst verursacht wird, in diesem Fall offenbar gekoppelt mit einer Vorstellung von Wiedergeburt und Karma. Und Jesus antwortet ihnen:

Es ist weder seine Schuld noch die seiner Eltern. An ihm soll das Handeln Gottes sichtbar werden.

Er wurde also, so Jesus, blind geboren, damit er ihn heilen kann. Jesus versteht dessen Krankheit hier eindeutig nicht als Folge eines „Seelenthemas“ oder „Schuld“ des Blinden, sondern weist ihr eine ganz andere Funktion zu. Jesus sagt nicht, es ist purer, blinder Zufall, dass es dich getroffen hat. Sondern: Der Sinn deiner Krankheit wird sich in deinem Leben noch zeigen.

Es geht ihm nicht um die Ursache, sondern die Folge.

Eine Folge davon, dass Ken Wilbers Frau krank wurde, war, dass sie sich in der Begleitung krebskranker Menschen engagierte und als Künstlerin ihre Bestimmung fand. Eine andere Folge war, dass die Liebe zwischen Ken und Treya noch tiefer wurde, weil sie diese Krise zu meistern hatte. Und eine weitere Folge davon war das Buch „Mut und Gnade“, das Ken Wilber nach ihrem Tod herausbrachte und das seither unzählig viele Menschen zum Weinen gebracht, inspiriert und getröstet hat.

Als ich Mut und Gnade schrieb, nahm ich an, dass vielleicht ein Jahr lang eine Flut von Briefen käme, die dann nachlassen würde. Aber die Briefe kommen nach wie vor, jeden Monat Dutzende, deren Inhalt mir sehr nahe geht.

Ken Wilber, Einfach „Das“, S. 62

Genauso wenig wie wir über alle Ursachen einer Krankheit Bescheid wissen, wissen wir über alle kurzfristigen oder längerfristigen Folgen einer Krankheit Bescheid. Manchmal geht es offenbar nicht darum, eine Krankheit so schnell wie möglich wieder „weg zu machen“, sondern darum, zu lernen, mit dieser Krankheit zu leben: Eine Herausforderung für den Betroffenen, die Angehörigen, die Gesellschaft, in allen Bereichen, auf allen Ebenen. Und manchmal ist eine Krankheit auch eine Erfahrung, die uns reifen lässt und verständnisvoller macht. Das jedoch hängt tatsächlich allein von uns ab.

„Wer an einer schweren Krankheit leidet, wird sich dadurch vielleicht tiefgreifend ändern, aber daraus folgt nicht, daß er krank wurde, weil ihm das durch die Veränderung Entstandene früher gefehlt hat.“

Ken Wilber, Mut und Gnade

 

 

4 comments

  1. liebe sandra
    früher in einer freikirche habe ich sehr darunter gelitten,als ich krank war und es hieß,ich hätte irgendeine schuld auf mich geladen .jeder versuchte ,so gesund wie möglich zu wirken ,damit dieser gedanke bei niemandem aufkam .das war sehr anstrengend und eine art „erfolgsdruck“ gesund zu sein.
    später wandte ich mich dem anderen modell zu –krankheit als weg. das war besser und ich konnte etliches auflösen ,aber diese ansicht ließ ein gefühl des “ es ist nicht NUR so“in mir zurück.
    jetzt inzwischen sind alle 4 quadranten im blickpunkt und es ist sehr stimmig für mich.
    dieses “ beurteilen und verurteilen“ ist es ja auch ,was jesus im evangelium oft scharf kritisiert hat(was siehst du den splitter im auge deines bruders……..und den balken im eigenen auge nicht.
    im buddhismus ist mitgefühl– welches ver–und beurteilen ausschließt– die höchste qualität.
    liebe grüße marion

Kommentar verfassen