Interview mit Andreas Egger

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Andreas Egger aus der Schweiz arbeitet seit achtzehn Jahren in einem Pflegezentrum als Bereichsleiter der Gerontopsychiatrie. Gleichzeitig gibt er Einstiegsseminare in christliche Spiritualität und macht eine Ausbildung zum Coach. Wir haben uns über Facebook kennen gelernt. In unserem Gespräch erzählt er mir unter anderem, wie er die Mystik für sich entdeckt hat, welche Meditationsübungen er an andere weitergibt und wie diese bereits sein eigenes Leben verändert haben.

Wie kam es dazu, dass du heute Seminare und Coachings anbietest?

In meiner Arbeit gestalte ich zusammen mit Pflegenden Rahmenbedingungen für einige Wohnbereiche für Menschen mit Demenz und anderen psychiatrischen Erkrankungen. Die Coachingausbildung habe ich aus dem Bedürfnis heraus begonnen, die persönliche Entwicklung von Mitarbeitenden besser unterstützen zu können. Ausserhalb der beruflichen Tätigkeit begleite ich ehrenamtlich einzelne Personen aus dem Umfeld unserer Freikirche und dem erweiterten Freundeskreis. Es bereitet mir viel Freude, wenn ich als Coach zu neuen Sichtweisen und neuen Schritten im Leben beitragen kann. Oft bewirken scheinbar kleine Veränderungen bereits eine erstaunliche Verbesserung der Lebensqualität.

Ich wurde als Jugendlicher bewusst Christ und bin nun seit etwas vierzig Jahren in verschiedenen Freikirchen aktives Mitglied gewesen. Rund zwölf Jahre war ich ehrenamtlicher Gemeindeleiter in zwei kleineren Freikirchen. Ich sehe mich als theologisch geschulten Laien.

Vor ein paar Jahren habe ich die christliche Mystik wiederentdeckt. Eigentlich hatte ich als junger Mann bereits einen Zug in diese Richtung, war zum Beispiel von Gerhard Teerstegen fasziniert. Ich habe damals aber keinen praktischen Zugang gefunden. Ich fragte mich: Geht das überhaupt, Mystiker zu werden, wenn man nicht Mönch oder Einsiedler ist? Es ist damals bei der intellektuellen Auseinandersetzung geblieben. Mir fehlte jemand, der mich hätte anleiten können.

In deinen Seminaren führst du sowohl in das Jesus-/Herzensgebet als auch das Gebet der Sammlung ein. Ich erlebe diese zwei Gebetsformen als extrem unterschiedlich. Geht es dir genauso? Wenn ja, welche Unterschiede hast du persönlich festgestellt?

Ich erlebe sie auch sehr unterschiedlich, aber sie ergänzen sie sich gut.

Ich bin durch Sabine Bobert wieder auf das Thema Mystik gestossen und habe durch ihre Kurse das Jesusgebet entdeckt. Ich habe ein selber formuliertes, christliches Mantra, das mich, verbunden mit dem Atem, durch den Tag begleitet. Wenn ich konzentriert tätig bin, ist es meist weg; in mentalen Leerzeiten rufe ich es manchmal aktiv ins Bewusstsein und manchmal realisiere ich, dass es einfach da ist. Dank dem Mantra konzentriere ich mich im Alltag vermehrt auf den Moment, meine Beziehung zu Gott ist mir bewusster, ich realisiere meine Stimmungen und Gedanken, werde zum Beobachter meiner selbst. Ich wähle bewusster, was mich beschäftigen soll. Die Konzentration auf das Mantra hilft mir zu mehr Präsenz und Gelassenheit mitten im Alltag.

Das Gebet der Sammlung kam später durch Recherchen im Internet dazu. Ich praktiziere es täglich in ein bis zwei Gebetszeiten von mindestens fünfzehn Minuten. Anders als beim Jesusgebet lässt man im Gebet der Sammlung Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen aller Art los. Das Hilfsmittel ist ein «heiliges Wort». Das heilige Wort drückt die Absicht aus, Gott in sich wirken zu lassen. Es wird nur dann sanft eingeführt, wenn man während der Gebetszeit feststellt, dass man am Denken ist.

Es geht um den Raum zwischen den Gedanken. Im Loslassen erfahre ich, dass ich ohne Bemühung längst gehalten bin. Das Loslassen während der Gebetszeit bewirkt mit der Zeit mehr Gelassenheit im Alltag. Ich habe ganz überraschende Veränderungen zum Beispiel in Bezug auf eigene Bitterkeit und Frustpotential erlebt, die plötzlich nicht mehr da waren. Nicht gesuchte, positive Wirkungen, die ich auf das Gebet der Sammlung zurückführe.

Bei beiden Meditationsübungen geht es nicht um die Erlebnisse im Moment. Mentale Bilder, prophetische Eindrücke, spontane Einsichten werden losgelassen. Dafür ist nach dem Gebet der Sammlung wieder Zeit.

Empfiehlst du deinen Teilnehmern, beide Meditationsformen zu praktizieren oder die auszuwählen, die einen eher anspricht?

Ich empfehle beide Formen. Auch im Buch «Das Gebet der Sammlung» von Thomas Keating wird unter dem Namen «Aktives Gebet» das Jesusgebet als ergänzende Übung empfohlen, allerdings nicht ausführlich.

Den meisten meiner Teilnehmer fällt jeweils eine der Übungen leichter. Manchen macht es Mühe, ein Zeitfenster zu finden, um eine der Gebetsformen zu üben. Sie schätzen die Möglichkeit der Integration in den Alltag beim Jesusgebet. Anderen sagt das Loslassen und die innere Stille des Gebets der Sammlung besonders zu. Mir scheint durch diese Übungen werden die Menschen dort abgeholt, wo sie spirituell sind. Mit dem meditativen Gebet machen sie neue Erfahrungen. Von diesen aus ergeben sich andere Blickwinkel auf die eigenen Lebenserfahrungen und neue Interpretationen. So entsteht eine Entwicklung über die engere Thematik des Meditierens hinaus.

Mir ist es wichtig ohne Druck alle anzuleiten, achtsam mit sich umzugehen. Die liebevolle, gelassene Haltung gerade beim Loslassen der Gedanken oder beim Zurückkehren zum Jesusgebet ist ein wichtiger Teil der Übung. Ich versuche in den Kursen kontroverse, dogmatische Diskussionen zu vermeiden. Ich wünsche mir eine gemeinsame spirituelle Erfahrung, jenseits von trennenden Auseinandersetzungen über religiöse Lehraspekte.

Welche Menschen kommen in deine Seminare – ist das eher ein bunt gewürfelter Haufen oder ein bestimmter Menschentypus? Wenn letzteres, wodurch zeichnet dieser sich aus, was ist sein durchschnittliches Alter, seine religiöse Prägung, sein Lebensstil?

Bisher habe ich vier Seminare durchgeführt, insgesamt haben etwa 25 Personen teilgenommen. Zehn Personen treffen sich monatlich zu einem Erfahrungsaustausch mit gemeinsamer Meditationszeit. Die ersten drei Kurse nahmen nur Personen in der zweiten Lebenshälfte teil. Alle pflegten eine eigene christliche, vor allem freikirchliche Spiritualität. Es waren deutlich mehr Frauen als Männer. In Bezug auf Bildung und persönlichen Hintergrund war es ein bunter Haufen.

Beim vierten Kurs haben sich auch jüngere Personen ausserhalb der lokalen, freikirchlichen Szene angemeldet. Sie haben mich über mein Coachingangebot kennen gelernt und weiterempfohlen. Über diese Konstellation habe ich mich besonders gefreut, denn mir erscheint die gemeinsame Erfahrung in der Meditation ein guter Weg um postmodernen, vom Konstruktivismus geprägten Menschen eine Erfahrung mit Gott zu ermöglichen. Die Zustimmung zu Dogmen zu fordern, um Gott erleben zu können, ist für viele Zeitgenossen nicht mehr nachvollziehbar. Also machen wir doch eine gemeinsame Erfahrung! Gott ist ja schon da und wartet auf uns.

Als Quellen nennst du unter anderem Richard Rohr, Gott 9.0, Thomas Keating und Cynthia Bourgeault. Gibt es etwas, was deinem Eindruck nach, all diese Denker miteinander verbindet?

Ja, ich sehe viele Gemeinsamkeiten. Alle haben ihre Spiritualität in der christlichen Tradition entwickelt, vertieft und bleiben darin verwurzelt. Sie bejahen Modelle wie Spiral Dynamics um die Entwicklung der Menschheit und einzelner Personen besser einordnen zu können. Sie haben alle ein weites Verständnis des christlichen Glaubens, das Erkenntnisse aus anderen Disziplinen integrieren kann. Sie trauen Menschen aus anderen Traditionen echte Gotteserkenntnis zu. Sie setzen sich für einen kontemplativen Lebensstil ein, der durch Übungen wie das Jesusgebet und das Gebet der Sammlung gefördert wird.

Du kommst aus einem freikirchlichen Umfeld. Erlebst du eher Unterstützung für deine Sache oder auch mal Gegenwind?

Ich bin Teil einer kleinen Freikirche, in einem traditionell katholisch geprägten Umfeld in der Schweiz. Wir haben bei uns eine für freikirchliche Gruppen grosse Toleranz in Bezug auf verschiedene Auslegungen der Bibel. Hier erlebe ich von den meisten Personen Interesse und Unterstützung. Es ist wirklich ermutigend.

Einige haben Angst vor Verwässerung der christlichen Lehre durch Esoterik. Diese Befürchtungen kommen aus gut gemeinter Sorge. Sie sind durch die Warnungen vor Götzendienst und Zauberei in der Bibel begründet. Diese Personen wollen die Lehre bewahren und damit Gott treu sein, sie sorgen sich oder haben Angst. Ich finde das unbegründet, kann die Beweggründe aber verstehen. Vor etwa zehn Jahren  habe ich schliesslich noch ganz ähnlich gedacht.

Hat sich dein Leben verändert, seitdem du angefangen hast, zu meditieren?

Meine Frau hat schon wiederholt erzählt, ich sei liebevoller und achtsamer geworden. Das kann ich selber gar nicht so recht wahrnehmen. Ich realisiere, dass ich über manche Dinge aus der Vergangenheit heute ganz gelassen nachdenken kann und keine Bitterkeit oder Trauer mehr empfinde. Oft habe ich das Gefühl, dass sich Dinge einfach ergeben. Ich erlebe mein Leben mehr geführt und weniger selbst gemacht als früher. Es macht mir auch weniger aus, einen Misserfolg zu erleben. Ich tue, was ich für richtig halte, mit weniger Erwartungen in Bezug auf das Resultat und überlasse das Ergebnis Gott. Das gelingt mir besser als früher.

Ich erlebe die zu Kontemplation und Mystik hinführenden Gebetsübungen als eine grosse Bereicherung, dich ich nicht mehr vermissen möchte und deshalb gerne mit anderen teile.

Lieber Andreas, ich danke dir ganz herzlich für unser Gespräch!

Die Seite von Andreas Egger findet ihr hier: https://www.lebendig-unterwegs.ch

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