Wandeln in Schönheit

Veröffentlicht von

Anfang diesen Jahres ist mir etwas passiert, was mich dazu gebracht hat, mich intensiver mit dem Thema „Gipfelerfahrungen“ auseinanderzusetzen – ich bin von einem Moment auf den anderen in einen höheren Bewusstseinszustand hineingerutscht und erst einen Tag später wieder heraus.

Ich war mit meinem Sohn spazieren und schob ihn im Buggy vor mir her. Dann: War der Himmel plötzlich weiter. Der Park voller Schnee überirdisch schön. Ich sah auf eine Drossel im Baum und hörte ihren Gesang: Es schien mir, als hätte ich noch nie so etwas schönes gehört und mein Ich trat in den Hintergrund. Die ganze Welt wurde leise, nur, um diesem Vogel zu lauschen…

Der Begriff „Gipfelerfahrung (Peak experiences)“ wurde von Dr. Abraham Maslow (1908- 1970), Mitbegründer der Humanistischen und der Transpersonalen Psychologie, geprägt. Er bezeichnete damit das Phänomen, dass ganz normale Menschen manchmal spontan für eine gewisse Zeitspanne in einen gehobenen Bewusstseinszustand geraten, der sich für sie wunderbar anfühlt und den Einheitserfahrungen von Mystikern ähnelt, z.B. auf einem Berg, in einer schönen Landschaft, aber auch während der Geburt eines Kindes.

Gipfelerfahrungen sind unterschiedlich lang, Minuten, Stunden oder Tage etc. Halten sie dauerhaft an, spricht man auch von einer Plateau-Erfahrung. Und sie sind von unterschiedlicher Art. Kennzeichen sind meistens ein Gefühl von innerem Frieden, Stille, Ruhe und Leichtigkeit, alles erscheint schön, alles ist miteinander verbunden und verwandt, Wohlgefühl, Zentriertheit, das Fehlen von Widerständen.

Wir könnten sagen: In diesem Zustand wird klar, was der Begriff „Seligkeit“ eigentlich meint. Jeder, der schon einmal ein solches Erlebnis hatte, wünscht es sich zurück oder wünscht sich gar, immer in diesem Zustand zu leben. Ken Wilber bezeichnete es als die „Psychische oder subtile Stufe“ oder „Naturmystik“: Der Mensch verschmilzt mit seiner Umgebung: Er und der Berg sind eins. Der Berg ist ein Teil des eigenen Inneren.

Indigene Völker Nordamerikas nennen diesen Zustand „Walking in Beauty“:

Möge ich mit Schönheit vor mir wandeln.

Möge ich mit Schönheit hinter mir wandeln.

Möge ich mit Schönheit unter mir wandeln.

Möge ich mit Schönheit unter mir wandeln.

Möge ich mit Schönheit über mir wandeln.

Möge ich mit Schönheit überall um mich herum wandeln.

Navajo Gebet, https://thebeautyway.net

Sie können – ähnlich wie Nahtoderfahrungen – einen Menschen grundlegend und dauerhaft verändern.

Dr. Grant McFetridge, der mit vielen Jahren Gipfelerlebnisse erforscht, erzählt, dass er selbst bis zum Alter von 29 Jahren in einem Zustand gelebt habe, den andere meistens nur kurz, eben während einer Gipfelerfahrung erleben dürfen. Als er durch ein traumatisches Ereignis, seine Scheidung, aus diesem Zustand herausgeschleudert worden sei, konnte er nicht mehr aufhören, ihn sich zurückzuwünschen und ging deshalb der Frage nach, was diesen erhöhten Bewusstseinszustand verursacht und was dazu führt, dass er wieder verloren gehen kann.

Seine These ist, dass fast alle Gipfelerlebnisse dadurch zustande kommen, dass unsere drei Gehirne (Stammhirn, Limbisches Gehirn, Großhirn) einen hohen Grad der Integration erreichen. Ob das so stimmt, mag ich nicht beurteilen. Einig scheinen sich Forscher allerdings darin, dass das Gehirn bei höheren Bewusstseinszuständen – auch beim Meditieren – eine deutlich messbare, geordnetere Funktionsweise annimmt.

Nach Dr. Grant McFetridge liegt die Ursache dafür, dass wir nicht alle dauerhaft in diesem Zustand leben, an einer Anhäufung von Traumata rund um die Befruchtung und Geburt, d.h. auf Schädigungen auf Zellebene. Dazu hat er sogar einen eigenen Fachbereich erfunden, die subzelluläre Psychobiologie. Würden diese Schlüsseltrauma geheilt, könne jeder in diesen – eigentlich natürlichen – Urzustand zurückkehren. Eine eigens hierfür entwickelte Methode gibt er online und in Schulungen weiter.

Das klingt natürlich verlockend und spannend. Tatsächlich wurden fast alle religiösen Praktiken ursprünglich dazu erfunden, diesen Zustand zurückzuholen. Und die Idee ist wunderbar, dass wir eigentlich für dieses unendliche Glück geschaffen wurden…

Doch offenbar bleibt er bisher bei den meisten ein Ausnahmezustand. Ich vermute, dass es damit zu tun hat, dass gerade das Loslassen von Zielen und Erwartungen (und damit auch der, wieder eine solche Erfahrung machen zu wollen) diese Erfahrungen begünstigt. Das stellte bereits Maslow fest: Eine passive, entspannte, empfängliche Haltung sei eine wichtige Vorraussetzung.

Helmut Dörmann, Kursleiter an der Integralen Akademie, schreibt in einem Artikel in „Integrale Perspektiven“ mit dem Titel „Psychodynamik und Spiritualität“:

Erst als ich wirklich alles losließ, und ich meine wirklich alles, öffnete sich der Himmel in mir. Ich erlebte eine Gipfelerfahrung, die so stark war, dass sie nachhaltig bis jetzt wirkt.

In einem späteren zweiten Teil werde mit euch teilen, wie ich meine Gipfelerfahrung erlebte und auch, welche Erkenntnisse ich daraus für mich festhalten will.

Mich interessiert:

  • Hattet ihr selbst (eine) Erfahrung(en), die ihr mit diesem Begriff bezeichnen würdet? Und sprecht ihr offen darüber oder behaltet es lieber für euch?

Quellen: www.peakstates.com

Dr. Grant McFetridge

4 comments

  1. Ja, liebe Sandra, vor ca 30 Jahren kamen und gingen solche Erfahrungen bei „mir“, wobei dieses Erleben allerdings dadurch gekennzeichnet ist, dass da kein ICH mehr ist, dem das geschieht. Es folgten viele Aufs und Abs, wobei sich in den dunklen Tälern alle unerlösten Persönlichkeitsanteile umso deutlicher zeigten. Heute weiß ich, wie wichtig es ist, sich während der „Schattenarbeit“ nicht mit diesen Inhalten zu identifizieren, sondern ihnen aus dem neuen Licht heraus Aufmerksamkeit zu schenken und so Integration und Ganzwerdung zu ermöglichen.
    Bei vielen Mystikern kehrt im Laufe des inneren Weges dann wieder eine große Nüchternheit ein – in Deinem Artikel werden dauerhaft glückselige Zustände beschrieben – ich weiß es nicht…
    Freut mich, von Deinen „Pfingst-Erfahrungen“ zu hören. Bin neugierig, wie es bei Dir weiter geht…

  2. LIebe Sandra. Ich danke Dir für Deine wertvollen Beiträge. Ich fühle mich jedesmal angesprochen und persönlich erkannt. Seit über 20 Jahren bin ich mit Ken Wilber unterwegs und versuche als reformierter Pfarrer, Kirch und integrale Spiritualität zu verbinden (integrieren). Dein Konkrete Frage: Ja, ich hatte solche Erfahrungen. Peak-experiences aber auch 2 Plateauerfahrungen. Ich rede nie unaufgefordert darüber – wenn, dann geschieht dies in 4-Augengesprächen in denen ich Menschen geistlich begleite. Gleich nach den ersten solchen Erfahrungen war ich da völlig ekstatisch und habe davon geredet. Kritische Blicke und wenig Verständnis, haben mich ernüchtert. Ich erinnere mich an ein Wort: Wann sollst Du darüber reden? Wenn Du danach gefragt wirst. Aber lebe so, DASS Du danach gefragt wirst. Ein hoher Anspruch. Soviel kurz dazu. Ich wünsche Dir weiterhin diese Klarheit und Begeisterung für das Integrale. Herzlich Rolf Mauch, Zürich

    >

  3. Liebe Sandra,
    ja, ich kenne so eine tiefgreifende Erfahrung auch. Es war eine alles durchdringende Liebe, ohne Ich, Zeit oder Raum. Diese Erfahrung trägt mich bis heute. Auch kenne ich keine Angst vor dem Tod, weil er den Übergang in diesen wundervollen Zustand auf Dauer für mich bedeutet.
    Erst bei Richard Stiegler lernte ich viele Jahre später, dass es eine tiefe mystische Erfahrung war. Während seiner Ausbildung „Schritte ins Sein“ hatte ich dann etliche mystische Bewusstseinszustände. Später wurde das Buch von Jörg Zink „Gotteserfahrung“ dann quasi mein Lexikon für die christliche Sprache dieser Erfahrungen.
    Heute kann ich mir diese Zustände schenken lassen und dankbar dafür sein, wenn ich wieder im Ich bin. So ist das ganze Jahr über Pfingsten.

    Herzliche Grüße
    Wiebke

    1. Liebe Sandra, zuerst einmal möchte ich mich bedanken, dass es deinen Blog gibt. Die Zeit , ihn zu finden, war wohl reif.
      In meinen 65 Lebensjahren ,die knappe Hälfte davon als Atheist, hatte ich drei Gipfelerfahrungen: Im Sommer 1967, als ich knapp 12 J. alt war; 1994 bei einem Gottesdienst in Jerusalem und auf einem Spaziergang in der Natur am 2. Mai 2020. Seit dem sage ich nicht mehr „Ich glaube…“, sondern „Ich weiß …“. Genauer schildern möchte ich die Erlebnisse nicht, da Worte einfach unzureichend sind, sie auszudrücken. Aber jedes Erlebnis hatte eine Art Grundwort oder Thema (selbst das kann ich nicht richtig formulieren):
      1967: GRÖSSE, Macht, etwas Gewaltiges, fast bedrohliches, aber ohne Angst; Wärme, mütterlich, Geborgenheit.
      1994: absolute LIEBE, zu allen und zu jedem, selbst wenn es ein Terrorist gewesen wäre.
      2020: FREUDE und Schönheit; alles umher strahlte Schönheit aus; ein Strahlen; unendliche Freude, die immer mehr zunahm, bis es in der Brust schmerzte und ich zu zerplatzen drohte, weil ich so viel Freude nicht fassen konnte. Und obwohl wir – mein Mann und ich – die Quelle nicht finden konnten: Rosenduft.
      Seitdem kann ich mit der Institution Kirche nicht mehr viel anfangen. Ich bleibe zwar Katholik, finde aber in der Unity Church bzw. Unity Deutschland das, was ich an spiritueller Nahrung brauche.
      Es wäre toll, wenn es nicht nur kleine Unity-Gruppen, sondern richtige Gemeinden bei uns gäbe. Denn ich bin sicher, dass viele, die aus der Kirche ausgetreten sind, sich nach einer spirtuellen Heimat sehnen.

      Eine gesegnete Advents- und Weihnachtszeit wünsche ich dir und allen hier.
      Robert

Kommentar verfassen