Das Thomasevangelium

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Wer sucht, soll nicht aufhören zu suchen, bis er findet. Und wenn er findet, wird er bestürzt sein. Und wenn er bestürzt ist, wird er erstaunt sein. Und er wird König sein über das All.

Jesus, Logion 2

Mit diesen wenigen Worten beschreibt Jesus die Erfahrung der Erleuchtung.

Alle, die sich auf einen mystischen Weg innerhalb des Christentums begeben, werden früher oder später über das Thomasevangelium stolpern.

Das Evangelium wurde 1945 zusammen mit anderen Handschriften in der Nähe der ägyptischen Stadt Nag Hammadi gefunden.

Die Deutsche Bibelgesellschaft schreibt dazu:

Die in Nag Hammadi gefundene Sammlung von 13 Codices, die in Tonkrügen verwahrt worden waren, enthält mehr als 50 verschiedene Schriften. Allen dort gefundenen Handschriften ist gemeinsam, dass sie nicht allgemein von der damaligen Christenheit akzeptiert waren.

Das Evangelium hat wenig Ähnlichkeit mit den Evangelien der Bibel. Es handelt sich nicht um eine durchgehende Erzählung, sondern eine Sammlung von ingesamt 114 Sprüchen, die Jesus zugeschrieben werden. Manche dieser Sprüche ähneln Sprüchen, die wir kennen, die meisten klingen rätselhaft.

Doch ganz so groß ist der Gegensatz nicht: Denn auch unseren Evangelien liegen mindestens eine vermutete Sprüchesammlung zugrunde – denn laut einer Hypothese der Neutestamentler, der Zweiquellentheorie, greifen auch die Evangelisten Matthäus und Lukas auf eine Sprüchesammlung (Q) und weiteres Sondergut zurück.

Und die in den biblischen Evangelien überlieferten Gleichnisse oder Aussagen Jesu sind ebenso rätselhaft – wenn wir nicht durch lauter Gewohnheit („kenn ich aus der Kinderkirche oder Grundschule“) verlernt haben, uns über deren Inhalt zu wundern.

Das Thomasevangelium bleibt bis heute umstritten. Einige nennen es „ketzerisch“ oder gar „satanisch. “ Andere hängen der These an, dass es und andere gnostische Schriften absichtlich von der Kirche verboten wurde, gerade, weil es Jesus als Mystiker offenbart und damit die eigentliche Wahrheit über dessen Lehre vermittelt.

Die Apokryphen-Forschung nimmt allgemein an, dass es sich bei dem Thomasevangelium um einen alten Text handelt, älter als die sonstigen Apokryphen. Ein Papyrusfund aus Oxyrhychos in Ägypten, der erst durch die Entdeckung in Nag Hammadi richtig zugeordnet werden konnte, weist bis ins 2. Jahrhundert zurück.

Die Verfasserangabe, „Thomas“, verweist auf Ostsyrien als Ort der Abfassung und ursprünglichen Verbreitung. Es ist jedoch eher eine Sammlung als das Werk eines einzigen Autors.

Warum gilt es als mystisch? Im Gegensatz zu den biblischen Evangelien spielt Jesu Leiden praktisch keine Rolle, im Mittelpunkt steht die Lehre vom Reich Gottes. Dieses ist kein Jenseits der Zukunft, sondern eine bereits bestehende Wirklichkeit in der Gegenwart und wird nur von wenigen wahrgenommen bzw. erkannt.

Das Königreich des Vaters ist auf der Erde ausgebreitet, und die Menschen sehen es nicht.

Logion 113

Es hat nicht den Anspruch, allgemein verständlich zu sein – sondern betont im Gegenteil die Notwendigkeit, den Sinn der Worte zu entschlüsseln. Dem Suchenden wird als Belohnung in Aussicht gestellt:

Wer die Auslegung dieser Wort findet, wird den Tod nicht kosten.

Logion 1

Damit wirkt es geheimnisvoll und anziehend. Auf diesem Weg scheint der Mensch alleine unterwegs, es ist von keiner Gemeinde oder Kirche die Rede.

Selig sind die Einzelgänger und die Erwählten. Denn ihr werdet das Königreich finden.

Login 49

Ich persönlich empfinde das Thomasevangelium als sehr wertvoll. Aus meiner Sicht finden sich hier erste Hinweise auf eine integrale Sicht der Dinge,

  • so die Entsprechung und Verschränkung von Innen/Außen: „Das Königreich ist in eurem Inneren und in eurem Äußeren“ (Logion 3)
  • so die panentheistische Gottesvorstellung: „Spaltet ein Holz, ich bin dort, hebt einen Stein hoch, und ihr werdet mich dort finden“ (Logion 77)
  • so die Betonung der Notwendigkeit, im Bewusstsein und der Erkenntnis zu wachsen: „Nicht aufhören zu suchen soll der Suchende, bis er findet“ (Logion 2), „Erkenne das, was dir vor Augen liegt“ (Logion 5)
  • so das Ziel der Selbsterkenntnis: „Wer das All erkennt, sich aber selbst verfehlt, verfehlt das Ganze“ (Logion 67)
  • so das Ziel, die Gespaltenheit zu überwinden und ganz zu werden: „Wenn ihr zwei zu einem macht und wenn ihr das Innere wie das Äußere macht und das Äußere wie das Innere […] das Männliche und Weibliche zu einem einzigen macht“ (Logion 22)
  • so die Verheißung mit Jesus wesensgleich zu werden: „Wer von meinem Mund trinkt, wird werden wie ich“ (Logion 108)

Wenn ihr es lesen wollt, könnt ihr es euch im Internet frei zugänglich herunterladen. Allerdings sind zahlreiche verschiedene und unterschiedlich verlässliche Übersetzungen im Umlauf. Daher meine Empfehlung:

https://www.heiligenlexikon.de/Literatur/Thomas-Evangelium.html

Ebenfalls empfehlenswert ist, wenn ihr es lieber – zusammen mit den anderen neutestamentlichen Apokryphen – in Buchform kaufen möchtet: „Die verbotenen Evangelien“ von Katharina Ceming und Jürgen Werlitz, 2004.

Literatur zum Thomas-Evangelium:

William G. Duffy, „The Hidden gospel of Thomas. Commentaries on the Non-Dual Sayings of Jesus“, 2020

Prof. Enno Popkes: Jesus als Begründer eines platonischen Christentums: Die Botschaft des Thomasevangeliums, 2019.

Ralph Skuban: Das Thomas-Evangelium: Auf der Suche nach dem Himmelreich, 2014.

Elain Pagels: Das Geheimnis des fünften Evangeliums: Warum die Bibel nur die halbe Wahrheit sagt, 2006.

Werner Koch: Jesus und der kleine Prinz. Mit dem Herzen sehen und alles ist gut. Mit dem Gesamttext des Thomas-Evangeliums, 2005.

Bild von Wikipedia Commons

19 comments

  1. Suuuuper! Ich mag das Thomas-Evangelium auch… Kennst du Oshos Buch „Die verbotene Wahrheit“? Das war damals für mich auch eine „Aha-Erfahrung“… 😉 Ebenso interessant Franz Alts „Was Jesus wirklich gesagt hat“… Lieben Gruss

    1. Franz Alt habe ich gelesen, wenn das Buch aus meiner Sicht vielleicht noch mehr über Franz Alt Jesusbild als über Jesus selbst aussagt, so finde ich doch den Ansatz, Jesus über die aramäische Sprache besser verstehen zu wollen, extrem spannend und wichtig. Osho kam ich leider noch nicht dazu, zu lesen (Schande über mich), steht aber auf der Liste. Danke dir für die Inspiration und schön, dass du auf meinen Blog gefunden hast! Liebe Grüße

  2. Hallo, ich versuche gerade nach einer etwas extremen Erfahrung – sozusagen einer Art Erleuchtung – das gesamte Thomasevangelium leicht verständlich zu interpretieren und quasi für normale Menschen zu „übersetzen“. Ich weiß aber nicht, wo ich so etwas überhaupt veröffentlichen könnte ohne dass man sich danach lustig macht über mich.

    Meiner Meinung nach enthält es mehr Wahrheit und Logik als über 90% aller in der Bibel aufgeführten Schriften und ich bin selbst überrascht wie leicht ich die Logien (Logos = Das Wort) auf einmal verstehen kann. Fast alles darin ergibt für mich plötzlich einen Sinn, vor wenigen Wochen sah das noch anders aus.

    PS: Mit Osho habe ich mich auch ein wenig beschäftigt, er war ein interessanter Mann. Das oben erwähnte Buch habe ich aber auch noch nicht gelesen.

    LG Daniel

    1. Hallo Daniel, das klingt ja spannend bei dir! Es gibt ja schon Versuche, das Thomasevangelium aus nondualistischer Perspektive (siehe dazu auch meine Buchkritik hier auf dem Blog) oder vor dem Hintergrund östlicher Spiritualität zu kommentieren, die veröffentlicht wurden. Da wir gerade auf unserer Online-Plattform eine Lesegruppe zum Thomasevangelium machen, sag gern Bescheid, wenn du Interesse an Austausch hättest – schreib mir dann einfach über das Formular. Sei lieb gegrüßt! Sandra

  3. Hallo. Sehr interresant! Es ergibt ein pantheistisches Weltbild. Dennoch ergeben die Worte des lebendigen Jesus noch etwas ganz Anderes. Wer Interesse hat, schnuppert mal bei Deweles.de rein. Dort werden die Worte richtig erklärt unter Globalisierung, Phanasie, Himmel auf Erden.

  4. Hallo. Ja, es ergibt ein pantheistisches Weltbild. Das habe ich aber schon immer geglaubt. Desweiteren ergeben einige dieser Sprüche aber auch etwas ganz anderes, sogar viel wichtigeres als das eigene Leben.Ein guter Mensch hat es entschlüsselt. Unter der Seite Deweles.de nachzulesen unter Globalisierung->Phantasie->Himmel auf Erden. Eine sehr gute Erläuterung der Worte des lebendigen Jesus, auch wenn der Verfasser nicht wirklich auf Spiritualität eingeht. Lieben Gruß, Patrick

    1. Lieber Patrick, integrale christliche Theologen ziehen es vor, von „Pan-en-theismus“ zu sprechen, was dann bedeutet, dass Gott sowohl innerhalb als auch außerhalb der Welt ist bzw. nicht mit dieser/dem Diesseits identisch, sondern zugleich jenseits von ihr. Das sind aber natürlich theologische Spitzfindigkeiten :-). Auf die von dir genannte Seite und Stelle habe ich einen kurzen Blick geworfen, finde das Geschriebene aber ziemlich verworren und weit hergeholt – vielleicht magst du noch einmal kurz für die anderen Leser/-innen kurz ausführen, was für dich darin die wesentliche Erkenntnis war? Ein herzlicher Gruß, Sandra

  5. Guten Abend zusammen,

    In Spruch 12 sagt uns Jesus, dass die Welt und das All wegen Jacobus dem Gerechten geschaffen wurde.
    Das in der Zeit, in der Jesus nicht bei uns sein kann. Petrus, der Felsen oder Stein wird hier nicht genannt. Kein Wunder, dass die
    Kirche das Thomas Evangelium nicht anerkennt. Da gebe es erheblichen Klärungsbedarf.

    Liebe Grüße

    Oliver

    1. Hallo! Danke, das freut mich und ja, darfst du. Allerdings sollte man eigentlich das Kopieren von Texten vermeiden und stattdessen besser verlinken – hab ich mal von einem anderen Blogger gelernt. Durch sog. „double content“ werden die Texte auf der Suchmaschine tiefer eingestuft, durch Verlinkung höher 🙂 Wenn es sich also noch ändern lässt, wäre es mir anders lieber und wir würden beide davon profitieren. Liebe Grüße, Sandra

  6. Ich schon wieder 🙂 Liebe Sandra, ich habe mir über den letzten Logion den Kopf zerbrochen und komm auf keine Lösung – was meint Jesus mit – Frau soll sich männlich machen?
    Vielleicht hast du eine Erklärung?

    Liebe Grüße

    Logion 114
    (1) Simon Petrus sprach zu ihnen: Maria soll von uns weggehen, denn die Frauen sind des Lebens nicht wert.
    (2) Jesus sprach: Siehe, ich werde sie ziehen, auf dass ich sie männlich mache, damit auch sie ein lebendiger, euch gleichender, männlicher Geist werde.
    (3) (Ich sage euch aber): Jede Frau, die sich männlich macht, wird eingehen in das Königreich der Himmel.

  7. Jesus hatte seinen Jüngern bereits beigebracht, dass sie keine physischen Wesen sind und dass es ihre Seelen sind, die ihre physischen Körper beleben. Jesus hatte ihnen auch beigebracht, dass jede Seele spirituell männlich ist .
    Jesus sagte, er würde Maria lehren, um sie erkennen zu lassen, dass sie eine Seele ist, und mit diesem Verständnis würde sie zu einem lebendigen Geist wie die anderen Jünger werden.
    Jede Frau, die erkennt, dass sie ein spirituelles Wesen ist, wird in den Geist des Vaters eintreten.
    Jesus sah die Menschen niemals als physische Wesen, er sah immer ihr wahres Wesen. Die Seelen aller Menschen sind in ihrer Natur, in ihrem Geschlecht und in ihrem Wert gleich. Du bist nicht dein physischer Körper, der von dieser Welt ist; du bist eine spirituelle Entität.

    1. WAI, danke für deine Erklärung, mhh Login 114 ist dann aber sehr irreführend ausgedrückt, ich weiß nicht, ich kann mich damit gar nicht anfreunden.

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