Eva Scherrer (Jahrgang 1950) liebt Musik und war schon immer eine viel interessierte Frau. Schon als Kind war sie eine lokal berühmte Organistin. Sie machte zunächst eine Ausbildung zur Krankenpflegehelferin, studierte dann Mathematik, Medizin und Chemie auf Diplom und arbeitete anschließend in der Pharmaindustrie. Später wechselte sie die Fachrichtung und wurde Musiktherapeutin. Sie beschäftigte sich schon länger mit Chaosforschung, Physik, Entwicklungspsychologie, Religion und Philosophie, bevor sie auf Ken Wilber, Jean Gebser und andere integrale Denker stieß. Dies ist der Anfang einer dreiteiligen Serie, in der wir euch an unserem Gespräch über Jesus, Jean Gebser und das integrale Bewusstsein teilhaben lassen wollen.
Sandra:
Liebe Eva, beginnen wir einmal bei Jesus. Deine These ist, dass Jesus seiner Zeit um mindestens 2.000 Jahre voraus war und er schon im integralen Bewusstsein lebte. Mit der du übrigens nicht allein bist. Was deutet deiner Ansicht nach darauf hin, dass dem so war?
Eva:
So wie er uns beschrieben wird, hat er mit all den damals herrschenden Glaubenstraditionen und Dogmen gebrochen. Er heiligte den Sabbat nicht, wenn Menschenleben zu retten waren. Er half auch Samaritern, obwohl diese ausgestoßen waren. Nach Kenntnissen aus dem Judentum hatte jeder Jude die Pflicht zu heiraten. Warum hätte sich Jesus da weigern sollen? Maria Magdalena, die aus welchen Gründen auch als Hure betitelt wird, konnte gut seine Lebensgefährtin, seine Frau gewesen sein. Katharer glauben heute noch daran.
Sandra:
Ich fand immer den Gedanken spannend, dass Jesus gerade auch hier mit seiner Tradition brach, indem er eben nicht heiratete, sondern ehelos lebte.
Eva:
Du meinst, dass er die körperliche Liebe sublimieren konnte, so wie die katholischen Priester, Mönche, Nonnen, Diakonissen, wenn sie es denn tun? Erst daraus könnte ich auch bei Glaubensmenschen die Ablehnung des Sex verstehen und sie damit als besondere Menschen, die dem Integralen wesentlich näherstehen als wir Normalos, ehren und achten.
Sandra:
Vielleicht hatte er ja trotzdem echten Sex? Wer weiß. Ich mag aber die Interpretation des Jesusfilms von Roger Young. Jesus scheint in Maria verliebt und flirtet mit ihr, bis er erkennt, dass er nicht zu einem normalen Leben berufen ist und sich aus Liebe von ihr verabschiedet. Zumindest deutet ein Jesuswort darauf hin, das wir bei Matthäus (19,12) finden: „Es gibt Männer, die sind von Geburt an eheunfähig. Und es gibt Männer, die werden von Menschen eheunfähig gemacht. Wieder andere haben sich selbst eheunfähig gemacht, weil sie ganz für das Himmelreich da sein wollen.“
Doch zurück zum eigentlichen Thema: Inwiefern führen Jesu Worte ins integrale?
Eva:
Es zeigt sich, dass Jesus sehr oft von Dingen spricht, die dem mythischen Glauben nicht entsprechen, sondern direkt ins integrale Bewusstsein führen. Von daher konnten sie aus damaligem Verständnis heraus erst einmal nur geglaubt werden und nicht hinterfragt werden oder wurden dem Zeitgeist angepasst. Typisch für dieses neue Bewusstsein, wie es Jean Gebser in „Ursprung und Gegenwart“ beschreibt, sind Ichfreiheit, Raumfreiheit, Zeitfreiheit. Mit diesen Elementen lassen sich Jesu Worte widerspruchsfrei erklären. Jesus spricht nur als “Menschensohn”, nicht als persönliches Ich. Das Ich tritt in den Hintergrund. Nur einmal bei der Kreuzigung zeigt er persönliche Angst.
Sandra:
Das klingt spannend, vor allem, da viele Deutungen genau den umgekehrten Schluss nahelegen. Die „Ich bin Worte“ von Jesus werden zum Beispiel oft so verstanden, dass er hier von sich persönlich spricht, so dass daraus die besondere Stellung des Menschen Jesu zu Gott begründet wird als der einzige Sohn Gottes, neben dem es dann keinen zweiten geben kann. Ich neige dagegen immer mehr dem Glauben zu, dass sich Jesus ganz bewusst den Titel „Menschensohn“ gab, um damit anzudeuten, dass wir in ihm den wahren Menschen vor uns haben, so, wie er sein könnte, sein ganzes Potential: Wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich. Aber erzähl uns doch mal etwas über das Buch von Jean Gebser „Ursprung und Gegenwart“.
Eva:
Jean Gebser ging es um die Entwicklung des Bewusstseins. Die einzelnen Entwicklungsschritte der Spezies Mensch sind hier gleichzeitig auch ein Abriss der Menschheitsgeschichte, angefangen bei den Hominiden, die Höhlenmenschen, über die Antike, die Renaissance bis zur Neuzeit. Diese Entwicklung von einer Stufe zur anderen verläuft – wie die fast aller Systeme – nicht linear, sondern in Sprüngen. Die Chaosforschung ist hier vielen grundsätzlichen Dingen auf die Spur gekommen und hat dazu die „Theorie nichtlinearer dynamischer Systeme“ entwickelt. Chaotische Systeme zeigen ganz bestimmte Verhaltensmuster wie zum Beispiel Rückkopplungen (moderne Heizung), Iteration (Verästelungen der Bäume gleicht den Verästelungen der Zweige), Intermittenzen (Wellen, die sich plötzlich überschlagen), Selbstähnlichkeit (gleiche Mikrostruktur wie Makrostruktur), seltsame Attraktoren (Dynamik des Herzschlages), Bifurkation (Übergang von flüssig nach gasförmig beim Wasser). In Anlehnung an die kleinste Diskontinuität, dem Planckschen Wirkungsquantum, spricht man auch von Quantensprüngen. Mathematisch dargestellt sind es die nichtlinearen Funktionen.
Sandra:
Und diese Gesetzmäßigkeiten lassen sich auch auf das menschliche Bewusstsein anwenden?
Eva:
Ja. Es zeigt ebensolche Strukturen, in dem ein Zustand aus dem anderen hervorgeht. Alle Zustände bleiben erhalten, werden aber von der jeweils herrschenden Struktur dominiert. Die jüngste dieser Strukturen übernimmt die Vorherrschaft, während die zugrunde liegenden erhalten bleiben, aber abflachen.
Hier sei vielleicht auch unser „Dreifachgehirn“ aus Stammhirn oder Reptilienhirn (physiologisches Funktionieren), dem limbischen System (Tiere mit wenig Impulskontrolle) und dem Frontalhirn, (Denken) erwähnt. Alle drei Bereiche arbeiten im Menschen eng zusammen und sind voneinander abhängig. Das jeweils höhere ist ohne das niedere nicht denkbar, es sind Holons in Holons in….
Jede Struktur, bevor sie in die neue übergeht, wird defizient, was bedeutet, dass sie das Leben im Hergebrachten nicht mehr meistern kann. Bevor eine neue Struktur auftaucht, entsteht Chaos.
Sandra:
Und jetzt leben wir in einer solchen Chaos-Phase?
Eva:
Ja, wenn man mit offenen Augen durch die Welt der westlichen Wertegemeinschaft läuft. Mit der Renaissance und dem Eintreten der Naturwissenschaften wurde die defiziente Phase der mentalen Struktur, die rationale Phase, eingeläutet.
Sandra:
Warum defizient?
Eva:
Rational bedeutet die Berechenbarkeit, die Messbarkeit, die Folgerichtigkeit im Zeitpfeil, die Teilbarkeit und Analysierbarkeit der Welt in ihren Einzelteilen. Dieses Denken lässt keine anderen Erklärungen oder Deutungen zu. Alles muss wissenschaftlich bewiesen sein. Die Menschheit verzettelt sich in Einzelheiten und hat keinen Überblick mehr. Es entsteht eine babylonische Sprachenvielfalt der einzelnen Disziplinen.
Das Problem unserer Epoche ist, dass wir alles nur noch mit dem Verstand rational erfassen wollen. Das funktioniert nicht. Ohne die anderen Strukturen gibt es keine Wurzeln und das kann nur Untergang bedeuten. Integrales ist nur möglich, wenn die anderen Strukturen implementiert sind. Ohne Spiritualität des Magischen und Mythischen führt kein Weg ins Integrale.
Das zweite und noch größere Problem unserer Epoche ist die vernetzte Globalisierung: Menschen mit unterschiedlichen Hauptstrukturen leben zur gleichen Zeit in unterschiedlichen Welten, oft dicht in einem Haus. All diese Richtungen zu vereinen, zu integrieren, scheint zur Zeit eine unlösbare Aufgabe, womit Chaos jeden Tag sichtbar wird.
Fortsetzung folgt.
In den zwei nächsten Folgen wollen wir zusammen untersuchen, was Jean Gebser unter den Begriffen „Ichfreiheit, Raumfreiheit, Zeitfreiheit“ versteht und dann schauen, wo sich Elemente davon in Jesus Aussagen finden lassen.
Bilder: Jean Gebser (1905–1973). Picture taken in Bern, Kramgasse 52, in the apartment of Gebser at that time, Rudolf Hämmerli, editor of the publications of Jean Gebser, Wikipedia Commons
Eva Scherrer, Privat mit Genehmigung
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