Spirituelle Misshandlung ist leider ein weit verbreitetes Phänomen, und zwar sowohl innerhalb von Kirche(n) oder anderen Glaubensgemeinschaften, sei es in Strukturen oder persönlichen Seelsorge- oder Beichtgesprächen mit Geistlichen, als auch in persönlichen Beziehungen wie z.B. einer Partnerschaft.
Ich möchte im Folgenden nicht in das “armes Opfer- böser Täter”-Schema verfallen. Jeder von uns steht sowohl in der Gefahr, sich spirituell misshandeln zu lassen als auch andere auf diese Weise zu misshandeln.
Nach meiner Scheidung vor fünf Jahren dauerte es lang, bis ich mir im tiefsten Inneren eingestand, dass ich in der Ehe misshandelt worden war. Wirklich darüber reden konnte und wollte ich lange Zeit mit niemand. Denn neben physischer Gewalt gibt es noch andere Formen der Misshandlung und des Missbrauchs, die sehr viel subtiler, und für andere gewöhnlich nach außen nicht sichtbar sind: Verbale Misshandlung, emotionale Misshandlung, spirituelle Misshandlung. Warum fällt es uns Betroffenen so schwer, das rechtzeitig zu erkennen und uns einzugestehen?
Weil wir uns dann fragen müssen, wie es dazu kommen konnte, dass wir uns auf so eine Beziehung überhaupt eingelassen haben. Wir erkennen dann nach und nach, dass wir nicht nur ein armes Opfer sind, sondern uns diese Beziehung selbst ausgesucht haben und dass es dafür tieferliegende Gründe in unserer Psyche gibt, die wir ungern anschauen und uns eingestehen wollen: Eine Unfähigkeit, uns selbst wertzuschätzen und gut zu behandeln. Wir denken, wir hätten es nicht besser verdient.
„Neu anfangen nach einer Misshandlungsbeziehung“ heißt das Buch, dass mir dabei die Augen geöffnet hat. Die Autoren Meg Kennedy Dugan und Roger R. Hock zählen neben der emotionalen, körperlichen und sexuellen Misshandlung darin auch die spirituelle Misshandlung auf.
Im Folgenden verwende ich für den Misshandler die männliche Form, aber natürlich gibt umgekehrt auch Frauen, die Männer misshandeln oder Misshandlung zwischen gleichgeschlechtlichen Personen.
Wie ist spirituelle Misshandlung?
Die Autoren schreiben darin, dass sich ein misshandelnder Partner häufig die Glaubenssätze, die seiner Partnerin heilig sind, dazu verwendet, Kontrolle über diese auszuüben oder sie lächerlich zu machen.
Zu diesen Glaubenssätzen müssen übrigens keinesfalls nur religiöse gehören, sondern es können einfach Werte sein, über die du dich identifizierst, die ein wichtiger Teil von dir sind, wie z.B. eine alte Familientradition oder dass du dich dazu entschieden hast, Vegetarierin zu sein.
Als Beispiele für spirituelle Misshandlungstaten nennen sie unter anderem:
Belangloseren Ihrer Vorstellungen, Meinungen, Sichtweisen und Bedürfnisse, – Heruntermachen Ihrer Werte als dumm oder unrealistisch, – Festlegung seiner eigenen Werte als die einzig “wahren” Werte, […] Ihren religiösen Glauben in Abrede stellen, […] – Lächerlichmachen Ihrer Religion und Ihres Glaubens, – Einschüchterung anhand von Religion […]
Kennedy Dugan und Roger R. Hock, Aus dem Englischen, 2009, 35
Ich würde heute im Rückblick sagen, dass von allen Misshandlungsarten, die ich in meiner ersten Ehe erfahren habe, letztere die mit Abstand schwerwiegendste und verhängnisvollste war. Denn bei Spiritualität geht es ja um die existentiellste aller Frage, um die nach dem letztgültigen Sinn deines Lebens. Wenn jemand dich so weit hat, dass du jedes Mal denkst, du hast den Sinn deines Lebens verfehlst, wenn du nicht das machst, was er will, oder nicht so denkst, wie er über eine Sache denkt, bist du zu einer Marionette eines anderen Menschen geworden.
Durch perfide, subtile Taktiken, gelingt es dem anderen, dich davon überzeugen, dass er besser als du weiß, was Gott will oder was im Leben wirklich zählt. Und wenn du eine andere Meinung hast, ist das deshalb, weil du einen Denkfehler machst, oder zu dumm bist, oder zu böse, zu sündig, zu mittelmäßig, zu kleinbürgerlich, zu feige.
Und schwupp-di-wupp entscheidet er darüber, welche Musik, Bücher, Hobbys geistlich, tiefsinnig, Gott gefällig ist und welche nicht. Und die hörst du dann auch nicht mehr, denn du willst doch keine Musik hören, die dich von Gott entfernt, oder?…
Spirituelle Misshandlung bedeutet, dass dein Partner, aber auch deine Eltern, dein Pfarrer, Priester, Sektenführer etc. deine tiefsitzenden Ängste, deine Scham und Schuldgefühlen und das wertvollste in dir, das, was dir über alles heilig ist, dazu verwendet, dich für ihre Zwecke zu missbrauchen, zu demütigen und zu bestrafen.
Das spannende ist, dass es sich, meiner Beobachtung nach, gerade in Partnerschaften, aber auch Schüler-Guru-Beziehungen, häufig mit einem Gefühl des “Auserwählt-Seins” vermischt, sich also Selbsterniedrigung mit Selbsterhöhung mischen, beides Arten mit einem gestörten Selbstwertgefühl umzugehen. Z.B. wenn jemand dir sagt, dass du – und ganz besonders du – in diese Sekte gehörst, würdig bist, Schülerin, Nonne, Gefährtin etc. zu werden usw. und damit deinem Ego schmeichelt, um es im nächsten Moment nieder zu schmettern.
Weil diese Misshandlung im Regelfall nicht sofort als solche erkannt wird, sondern der so Misshandelte die Werte des anderen für sich übernimmt und sich damit selbst als dumm, sündig, unwürdig, gottesfern etc. wahrnimmt, kann dabei dein Selbstwertgefühl bis auf null herabsinken:
In dir wächst die Überzeugung heran, dass du der allerletzte, der allersündigste, der allergemeinste, der unmöglichste Mensch auf der ganzen Welt bist…
Worin du erkennst, ob es sich um spirituelle Misshandlung handelt
- Wenn jemand deine heiligsten Werte dazu verwendet, dich zu einem erwünschten Verhalten zu bewegen
- Wenn jemand besser zu wissen meint, was Gott von dir will oder welche Glaubensüberzeugung die einzig richtige ist
- Wenn der andere (nicht du!) darüber entscheidet, was dich glaubwürdig macht, also wo du (angeblich) in Übereinstimmung mit deinen Werten handelst oder nicht
- Wenn der andere dir damit droht, dass du den Hass Gottes auf dich ziehst, in die Hölle kommst, dein Leben verfehlen wirst, wenn du nicht dieses oder jenes tust (z.B. bei ihm bleibst statt ihn zu verlassen oder analog dazu die Glaubensgemeinschaft, eine bestimmte Glaubensrichtung verlässt)
- Wenn deiner Gemeinschaft wichtiger ist, dass du nach außen den Schein eines untadeligen Leben wahrst und heuchelst, als dass du ein aufrichtiger Mensch mit tiefem Glauben bist, der offen zu seinen Bedürfnissen, Fehlern und Schatten steht
Was du dagegen tun kannst
- Du kannst dir bewusst machen, dass niemand Gott näher steht als du. So etwas gibt es einfach nicht, denn wir sind alle Kinder Gottes, da ist nicht einer mehr, der andere weniger Kind. Wenn du eine aufrichtige Beziehung zur göttlichen Wirklichkeit führst, in der du alles offenlegst, und alles erwartest, wird diese dir nach und nach alles zeigen, was du für dein Leben wissen musst.
- Häufig projiziert die andere Person eigene Ängste oder Schattenanteile auf dich – z.B. hat sie selber Angst davor, dass ihre Ehe scheitern könnte, dass sie Fehler macht, dass sie nicht ihr eigentliches Leben lebt und erklärt dir deshalb, dass das alles nicht “gottgewollt” sei. Aber schau dir mal ihr Leben an: Ist es perfekt, vollständig heilig?
- Du kannst aktiv an deinem Selbstwertgefühl arbeiten, dich mit deinen tiefsten Ängsten und deinen Schuld- und Schamgefühlen auseinandersetzen, um weniger anfällig für Manipulation zu werden. Wir sind nicht nur “arme Opfer”: Häufig suchen wir uns ganz unbewusst gezielt die Beziehungen aus, die das spiegeln, wie wir insgeheim über uns denken.
- Du kannst dich von Personen trennen, die dir auf diese Weise schaden, oder die Kirche(n), Gemeinde, Glaubensgemeinschaften etc. verlassen, in denen du Misshandlung erfahren hast.
Offenbar werden auch innerhalb der Kirche immer mehr Menschen auf dieses Thema aufmerksam. Die ehemalige Ordensfrau Doris Wagner hat dieses Jahr (2019) ein Buch darüber veröffentlicht: “Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche”.
Selbst die deutsche Bischofskonferenz hat sich bereits auf Tagungen damit auseinandergesetzt: https://www.dbk.de/presse/aktuelles/meldung/fachtagung-der-deutschen-bischofskonferenz-in-mainz/detail/
Die Universität in Graz veranstaltete erst kürzlich ein Symposium dazu:
https://events.uni-graz.at/de/detail/article/grauzonen-symposium-geistiger-missbrauch-am-29112019-1/
Mehr zum Thema Misshandlung in der Partnerschaft:
https://www.re-empowerment.de/gewalt/formen/non-physische-gewalt/psychische-gewalt/
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Misshandlung ist die unangemessene, schlechte Behandlung eines anderen Menschen. Rein spirituell bedrängt diese Handlung speziell die geistige Unabhängigkeit, die persönlich erkannten Werte, das innerste Gefühlsleben und damit die individuelle Eigenverantwortlichkeit im Fühlen, Denken und Handeln des Misshandelten. Er wird emotional unter Druck gesetzt, kann sich nicht wehren.
Wann ist es möglich, dass eine spirituelle Misshandlung entstehen kann, sollte die erste Frage (des Therapeuten) sein. Es braucht einen objektivierten Blick über die geistige Entwicklung des Opfers.
Dazu schalte ich hier eine neurologische Erkenntnis zwischen.
Die neuronale Verschaltung im Gehirn, das heißt die Ausbildung aller körperlichen und geistigen Funktionen des Menschen, geschieht in den ersten zwanzig Lebensjahren. Zuletzt, in den Zwanzigern, verschalten sich die Neuronen, die für Ethik und Moral zuständig sind. Vorher ist eigenes ethisches Handeln nicht möglich!
Erziehung bedeutet den jungen Menschen Vorbild zu sein. Die Gebote werden von den jungen Menschen übernommen, stimmen sie mit dem Verhalten des Erziehenden überein. Anderenfalls nennt es die Psychologie „double bind“, welches bis zur Schizophrenie als Krankheit führen kann. Gebote werden vom jungen Menschen erst hinterfragt, wenn der Verstand (siehe neuronale Verschaltung) in der Lage ist sich mit Abstrakten zu befassen. „Sapere aude, habe den Mut dich deines eigen Verstandes zu bedienen“ erklärte Kant zur Maxime, wobei er wohl eher die mentale/spirituelle Vernunft meinte als den rationalen Verstand.
Nach Abschluß der Adoleszenz sollte der Mensch seinen inneren Kompass eingestellt haben. Bei den Meisten ist das leider nicht der Fall. Denn die eigenen Werte und Überzeugungen, Gefühle bleiben nach wie vor abhängig (siehe Wilbers vier Quadrantentheorie) von den moralischen Werten der Gesellschaft, von dem sozialen Umfeld, vom Stand der bestehenden rationalen Erkenntnisse.
Bei vielen kommt noch hinzu, dass sie im Laufe ihrer Entwicklungen die eine oder andere Stufe nur bedingt gemeistert haben, sie also mehr oder weniger „nachgenährt“ werden müßten. Diese Menschen tragen ihr sogenanntes Defizit unbewusst/ halb bewusst mit sich herum. C G Jung sprach vom eigenen Schatten, den jeder Mensch fürchten sollte, käme dieser ungewollt an die Oberfläche des Bewussten.
Und je mehr Schatten der Einzelne mit sich führt, um so mehr muß er diese Schatten im Gegenüber bekämpfen, wird externalisiert.
Opfer einer spirituellen Misshandlung bieten sich förmlich als Opfer an um so dem Zwang zum Erkennen des eigenen Balkens im Auge aus dem Weg zu gehen.
Auch hier ist es wichtig zu verstehen, wann und an welcher Stelle der geistigen Entwicklung ein Defizit entstanden ist. Du bezeichnest es sehr deutlich in Deiner letztens eingestellten Tabelle. So arbeitet heute die integrale Psychotherapie, die leider noch nicht sehr verbreitet ist.
Allen Stufen der Ichfindung ist aber gemein, dass vom Opfer der spirituellen Misshandlung eine große Liebesbereitschaft verbunden mit einer Sehnsucht nach Liebe einhergeht, egal auf welcher Stufe das Defizit entstanden ist.
In meiner psychotherapeutischen Ausbildung wurde mir weder in Supervisionen noch durch Lehrer dies wirklich vermittelt. Und doch ist es so klar. Jedes psychische Agieren, welches die eigenen innersten Werte berührt, ist ein direkter Weg zur Liebe. Liebe, die im Persönlichen erwacht, die, falls richtig begleitet, zur universellen Liebe führt. Sie bringt den Menschen zu seinem wahren Ich und zu seiner spirituellen Gesundung. Erst dann kann er sich zu neuen spirituellen Höhen aufzuschwingen. So geschieht es in der kindlichen Liebe zur Mutter/Vater, so geschieht es in der Liebe zum Lehrer, so geschieht es in der Liebe zu seinem Therapeuten, so geschieht es in der Liebe zum Partner.
Wunderbar ist es für Menschen, die von sehr verantwortungsbewussten Menschen in ihrer Entwicklung/Gesundung
begleitet werden. Das sind die Menschen, die echte Vorbilder leben, nicht nur als Vorbilder dienen wollen. Die jungen Menschen, einmal psychisch sicher gebunden in der Liebe, werden dann selbst zu Vorbildern, die anderen weiter helfen.
Und nun zum Verständnis von Menschen, die andere spirituell misshandeln.
Die meisten Menschen erreichen leider nicht diese geistige Höhe um Vorbilder zu sein. Denn dies setzt ein großes Maß an Ichfreiheit voraus. Sie halten sich an die gegebenen Moralvorstellungen, lassen andere aber auch so leben, wie sie wollen, zeichnen sich durch Verständnis und Toleranz aus, fühlen also nicht den Drang andere in eine Richtung drängen zu wollen. Sie wollen friedlich und unbedarft leben, lassen sich dann aber auch leichter instrumentalisieren, gehen öfter den Weg des geringeren Widerstandes, sind Mitläufer einer neuen, gegebenen Moral, lassen sich somit auch radikalisieren, wie heute wieder vermehrt zu beobachten ist.
Einige Menschen bleiben erst einmal in ihrem eigenen Egotunnel. Sie haben zumindest eine starkes „AußenIch“ etabliert. Sie erkennen nicht den eigenen Schatten, wissen sich aber zu helfen ihn weiter in Schach zu halten, in dem sie die Welt nach ihren Vorstellungen, Wünschen, Überzeugungen ausrichten. Es sind die Menschen, die andere überzeugen wollen, auch mit unlauteren Mitteln. Niemals aber findet man echte Vorbilder unter ihnen. Sie denken, handeln, fühlen als rationale Ich-Menschen, stellen statt ihrer Empathie, in Spiegelneuronen erkennbar, die Keule einer moralischen Überlegenheit zur Schau. Diese verkörpern sie aber nicht wirklich, denn dann wären sie Vorbilder.
Da wir alle Menschen sind, d.h. von unendlich vielen Parametern gelenkt werden, können eigentlich alle in die Täter- oder Opferrolle gedrängt werden. Und es ist sehr schwer auszumachen, wo gerade ein Mensch steht.
Ich halte es, um mir ein Vor-Urteil bilden zu können, immer mit der Frage, warum mein Gegenüber sich so verhält ohne mich selbst in diese Frage mit einzubeziehen. Und schon wird erkennbar, ob der Anlaß für sein Agieren eine Reaktion auf eine Äußerung bei mir lag, oder ob es etwas mit seinem Innenleben zu tun hat, die Aktion also nur auf sein eigenes Wohl oder Unversehrtheit gerichtet ist.
Danke, Eva, für diese wertvollen Ergänzungen! lg
Perfide. Scott Peck schreibt in seinem Klassiker “The Road less travelled”, dass wenn man einen anderen Menschen wirklich liebt, dann will man ja das Beste für ihn oder sie, und das ist nunmal spirituelles Wachstum (das es nicht ohne Freiheit geben kann). Umso schwerer wiegt es dann, wenn in einer Beziehung genau das so dermaßen pervertiert wird…
Danke!