Zum Buch:
Nina Senegal, Unter meinem weiten Himmel: Von einer, die auszog, das Fürchten zu verlernen, 2017.
Sabine Roß hat unter dem Pseudonym Nina Senegal ein biografisches Buch geschrieben, dass ihre ganz eigene „Gottesvergiftung“ (vgl. Buch von Tilmann Moser) mit gutem Ausgang zum Thema hat. Verzweifelt versuchte die Autorin lange Zeit, „dem Gottesbild eines liebenden Vaters, der einen Sohn zum Tode verurteilt hat, zu entkommen“. Schließlich stellt sie fest: „Alles, was ich heute als göttlich erfahre, ist ganz anders und viel größer als der Gott meiner Jugend.“ Wir spüren die Seele einer suchenden, nach Sinn dürstenden, sensiblen Frau, die immer wieder unter starkem Weltschmerz leidet. Besonders aber leidet sie an der Sühnetheologie der Kirche, die Schuldgefühle verursacht und einen klein fühlen lässt. So lässt die Autorin uns teilhaben, wie sie im Laufe der Jahre ihr Gottesbild einem radikalen Wandel unterwarf.
Es handelt sich dabei um eine bunte Collage aus biografischen Erzählungen, Gedanken, Gedichten. Zunächst war mir dieser ständige Wechsel der Genres gewöhnungsbedürftig, doch bei mehrfacher Lektüre entfaltet dieser einen ganz eigenen Charme. Immer wieder finden sich kurze, sprachliche Perlen großer und starker Poesie.
Besonders gefiel mir der humorvolle Ton und die Bereitschaft der Autorin, über sich selbst zu schmunzeln. Ihr Buch endet mit einem lyrischen Apell für den Frieden.
Existenzangst, das Ringen mit dem Gottesbild, mit der eigenen Dünnhäutigkeit, all das kenne ich selbst und fühle von daher eine tiefe Verbundenheit mit der Autorin.
Sabine, du schreibst, „vielleicht gibt es noch viel mehr Menschen da draußen, die an Ihrem Glauben krank geworden sind und sich irgendwann fühlen, wie das Kind in dem Märchen „Des Kaisers neue Kleider“, das als einziges sieht: Der hat ja gar nichts an! Beziehungsweise: Es ist doch alles ganz anders!“ Mich hat dieser Abschnitt ganz besonders angesprochen und du hast mir geschrieben, dass du Gänsehaut bekamst, weil ich in meinem Büchlein dasselbe Märchen nenne, um die Gefühle zu benennen, die auch mich in der Kirche häufig beschlichen haben. Dieses Gefühl, sich unwohl in der Kirche zu fühlen, weil man bestimmte Dinge nicht glauben kann, das Ganze einen nicht freier, vielmehr enger fühlen lässt. Und: Ist es jetzt an der Zeit zu sagen: Der Kaiser ist nackt! Und dann trauen es sich immer mehr Menschen?
In gewissem Sinne schon. Für mich war es jedenfalls an der Zeit zu sagen: Ich schaue auf das Gleiche wie ihr, sehe aber nicht, was ihr seht. Ich wollte nicht wortlos in der Versenkung verschwinden, die Kirche war doch mein Zuhause gewesen, ich habe es so ernst gemeint mit meinem Glauben. Es ist doch traurig, wenn immer mehr Menschen die Kirche verlassen, und „die Kirche“ hat gar keine Ahnung, warum.
Die wichtigste Erfahrung mit meinem inneren Ringen war, dass es sich zutiefst richtig und gut anfühlt. Ich darf das! Ich werde nicht bestraft! Mit meinem Buch möchte ich den Menschen Mut machen, sich mit ihren Zweifeln auseinanderzusetzen und ihr eigenes Verständnis, ihren eigenen Weg zu finden.
Du schreibst, du musstest mit dem herkömmlichen Gottesbild brechen, das war überlebensnotwendig, gleichzeitig bekamst du Schuldgefühle und Existenzangst. Vor allem die Sühnetheologie hat dir zu schaffen gemacht. Du beschreibst sie als eine Vorstellung vom „Brüdermord.“ Dir wurde das Gefühl gegeben, durch deine Sünden am Tod Jesu Schuld zu sein, d.h. ihn umgebracht zu haben. Du schreibst, du kennst das Leiden Jesu, was dich aber von ihm trennt, sei, so die Vorstellung, die Schuld, die du an seinem Leiden trägst.
Ja, leider lag der Hauptfokus dessen, was mir „gepredigt“ wurde, auf dem Leiden Jesu und die für mich (als braves Mädchen) ganz unverständliche Schuldzuweisung. Die Schuldgefühle in meiner Kindheit und Jugend waren eher diffus, nicht greifbar, ich war darin gefangen, denn es musste ja wohl so sein.
Unter dem Titel “Brudermord” schrieb ich mich dann frei vom alten Gottes- und Jesusbild und von der Vorstellung von Sünde. Es fühlte sich an wie ein Sakrileg, eine kriminelle Handlung, ich schrieb um mein Leben und musste dafür mein Gottesbild töten. Dieses Schreiben war der Mord.
Du schreibst von der schmerzvollen Erfahrung, deine religiöse Gemeinschaft zu verlassen. Deine Seele sei von der engen Moral der Gemeinde vergiftet gewesen. Du hast dadurch einen großen Freundeskreis verloren. Das erinnert mich an Abrahams „Verlass dein Land, verlass deinen Stamm.“ Wenig später bist du deinem Mann begegnet. Ist das nicht interessant?
Ich bin ein Gemeinschaftsmensch, das Verlassen meiner Gemeinde, verbunden mit der Erfahrung, in meiner Eigenart nicht verstanden zu werden, war wirklich schlimm. Meinen Mann lernte ich am Höhepunkt einer Krise kennen, das hat mir vielleicht das Leben gerettet. Damit war ja nicht gleich alles gut, ich kam nicht von einem Hafen in den Nächsten. Vielmehr wurde mein Mann mir quasi zum Fels in der Brandung, ein verständnisvoller Begleiter auf dem weiterhin schwierigen Weg. Interessant vor allem ist ja, dass mein Mann Kirchenmusiker ist. Dadurch konnte ich mich nach dem Austritt aus der Baptistengemeinde leicht für die evangelische Kirche entscheiden. Das war mir, als ich mit unserem ersten Kind hochschwanger war, ein großes Bedürfnis.
Nun war und bin ich also seit 35 Jahren irgendwie auch mit der Kirche verheiratet. Ich bin nah dran, obwohl ich nur sehr selten einen Gottesdienst besuche, weil ich nach einigen Jahren merkte, dass ich mich noch weiter entfernen muss, mein Gottesbild noch weiter und freier wird und nicht mehr in die Kirche passt. So lebe ich mit Interesse am Rand einer sympathischen Gemeinde, von ganzem Herzen unterstütze ich die Arbeit meines Mannes, wir sind mit Pfarrerinnen und Pfarrern befreundet – aber mit meinen Gedanken zum Glauben bin ich alleine. Seit einiger Zeit ist das okay so für mich.
Schließlich findest du zu einem eigenen Bekenntnis: „Ich persönlich ahne und spüre Gott als eine wunderbare Schwingung von Mensch zu Mensch. Und zwischen jedem einzelnen Menschen und dem Unbegreiflichen.“ Weiter schreibst du „Gott ist Dialog: Fragen und Hören, auch Hadern und Herausfordern und Wünschen und Beschenken lassen.“ Diese Aussagen finden in mir starke Resonanz. Ich habe mich oft gefragt: Darf man so mit Gott reden, wie ich das tue? Ihn anschreien, auf ihn wütend sein, ihn hassen, ihm um den Arm fallen, ihn knutschen können?
Mein Hauptproblem ist ja das personale Gottesbild. Ich spüre einen großen Widerstand gegen die Worte, die man herkömmlich benutzt, um sich über Glauben auszutauschen, Sakramente zu zelebrieren, Lieder zu singen. Ich kann nicht „Vater“, „Herr“ und „Du“ sagen, und eine „Beziehung zu Jesus“ habe ich auch nicht. Ich merke, wie schwierig es ist, eine andere Sprache, andere Bilder zu finden, wenn das Göttliche nicht in einer Person anschaulich gemacht werden kann.
Zu deiner Frage, ob man „so“ mit Gott reden kann, habe ich zwei interessante Erfahrungen gemacht:
Ich schreibe gerade mit und für eine stark sehbehinderte Freundin an einem Buch über ihre Erfahrungen mit Gott, vor allem während der langen Krankheit und dem Tod ihres Mannes. Ein bisschen wundere ich mich selbst darüber, dass ich ihre religiösen Erfahrungen mit Respekt und Leichtigkeit formulieren kann. Sie redet mit Gott, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Und das fühlt sich für mich gesund, stimmig und echt an. Manchmal beneide ich sie darum.
Heute las ich wieder in deinem Büchlein über die drei Gesichter Gottes. Zum wiederholten Male und mit wachsendem Verständnis las ich, warum und wie du ein „Du“ für die drei Aspekte des Göttlichen findest und benutzt. Und ich merkte, möglicherweise, weil ich gerade ein bisschen krank bin, dass ich mich doch auch nach diesem „Du“ sehne.
Vielleicht brauchte ich so viele Jahre Abstand, so einen weiten Weg, um auf dem Hintergrund eines neuen Konzeptes, das „Alte“ neu mit Verständnis und Erfahrung füllen zu können.
Ich habe beim Lesen gemerkt, dass wir einige Gemeinsamkeiten haben: Ich bin ebenfalls hochsensibel und hatte lange Jahre dieselben Probleme, weil ich darüber nichts wusste, dachte, meine Nerven sind halt dünn, mit der Chemie stimmt was nicht. Ihr findet dann in der Familie eine liebevolle Bezeichnung dafür, den doppelten Ohrläppchenbruch…
Gott sei Dank, möchte ich sagen, entstand einmal, als ich mich mal wieder am hellichten Tag ins Bett zurückziehen musste, in mir ein heftiges Aufbegehren: „Das geht so nicht! Die Krankheit braucht einen Namen!“ Diese Entschlossenheit gepaart mit Humor gab mir die Kraft, mich mit den Kindern an einen Tisch zu setzen und einen Namen zu finden. „Der doppelte Ohrläppchenbruch“ war meine Idee, ich weiß gar nicht, ob die Kinder das damals so toll fanden. Aber nun gab es eine Möglichkeit, diesen diffusen Zustand in Worte zu fassen. „Na, Mama, doppelter Ohrläppchenbruch?“ fragte mein Sohn mal, weil ich ihm wohl komisch vorkam. Ich war so dankbar dafür, nun konnte ich sagen: „Nein, es geht mir gut“ oder „Ach, das ist nur ein halber.“
Die „Diagnose hochsensibel“ war für mich ebenfalls eine große Erleichterung. Ich benutze das jetzt nicht, um mich vor Herausforderungen zu drücken und mich hinter der Hochsensibilität zu verstecken. Vielmehr hilft es mir, ein Verständnis für meine Grenzen zu entwickeln und mich auf meine Stärken zu besinnen.
„Mein Glaube ist aus der Kirche hinausgewachsen und von außen kann ich mich nicht einbringen. Als Alternative bleibt mir, zu gehen. Und gehen macht einsam.“ Das ist wiederum ein Satz, der mir Mut macht. Ich glaube, wir sind gar nicht so einsam, wie wir denken – wir sind nur nicht vernetzt, wir kennen uns nicht, wir, die wir „aus der Kirche hinausgewachsen sind.“ Deshalb bin ich gerade Feuer und Flamme, dass wir gerade dabei sind, ein neues Netzwerk für eben solche Menschen zu gründen.
Vielleicht brauchen manchen Menschen diese Einsamkeit, um ganz für sich alleine da durch zu gehen, mit sich und dem Glauben zu ringen, daran zu wachsen. Vor einiger Zeit stellte mein Vater ganz enttäuscht fest, dass seine mühsam errungene Erkenntnis über das Göttliche jemand anderer schon genau so formuliert hatte. Ich tröstete ihn und wir konnten gemeinsam darüber lachen.
Für mich war es eine große Überraschung und Erleichterung, dich über dein Buch kennenzulernen, etwas über das integrale Christentum zu erfahren. Da gibt es Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich! Da gibt es eine Entwicklung innerhalb der Kirche! Mit dem integralen Ansatz beschäftigt sich „zufällig“ auch eine Internet-Community, zu der ich gehöre. Sehr spannend.
Offenbar ist da tatsächlich etwas im Gange. Die Zeit scheint reif für Veränderung und spirituelles Wachstum. Dabei ist für mich die Einsicht, dass es tatsächlich „viele Wege zu Gott“ gibt, eine große Erleichterung: Wir sind nicht alle gleich, wir haben hier nicht alle die gleiche Aufgabe. Wir sehen und verstehen unterschiedlich. Und das ist gut so. Aber die Möglichkeit, sich mit Menschen vernetzen zu können, die ähnlich denken, ähnliche Erfahrungen gemacht haben, ist großartig.
Mir geht das Herz auf, wenn ich dieses Gespräch lese, zeigt es mir doch, dass es immer mehr Menschen gibt, für die Gott größer ist als “alle Schubladen, die wir für ihn bauen” (R. Rohr)
Auch mich hat die Suche nach diesem Gott – und nach mir – mein Leben lang diffus begleitet und dann in eine große Lebenskrise gestürzt. Ich hatte eine Sehnsucht nach mehr, aber ich ahnte, dass es zu einfach wäre, den Gott meiner Kirche ad acta zu legen und mich einer östlichen Weisheitslehre anzuschließen. Letztlich bin ich in meinem ganz persönlichen Glauben angekommen: Gott ist für mich das Universum und die Weite, in die ich mich mit der Meditation “einfühlen” kann und gleichzeitig der ganz Nahe, der mich auch persönlich begleitet. Das ist für mich kein Widerspruch, in meinem Empfinden vereinen sich die scheinbaren Gegensätze.
Die steigenden Austrittszahlen belegen, dass die Kirche mit ihren normalen Sonntagsgottesdiensten und sonstigen Angeboten niemanden mehr anspricht. Vielleicht hat es wirklich auch mit diesem Konzept aus Schuld und Sühne zu tun, das langsam überholt scheint – old school, wie man heutzutage so schön sagt. Es ist ja durchaus möglich, die Bibel aus einem anderen Blickwinkel zu lesen, und schon klingen die Worte Jesu wie die Botschaft aus einer neuen Zeit und der Aufruf dazu, das Reich Gottes “mitten unter uns” integral und ko-kreativ zu leben.
Man muss es nur dürfen, das “anders lesen”…. wird noch ein Weilchen dauern, bis das erlaubt ist. Ob ich bis dahin noch Kirchenmitglied bin, weiß ich nicht.
Die Kirche muss charismatisch erneuert werden. Heilige Messen sind überflüssig. Spirituelles Heilen und Mystik müssen gefördert werden. Mehr dazu auf meiner Internetseite (bitte auf meinen Nick-Namen klicken).
Mit dem christlichen Glauben hat nicht viel zu tun, was hier zu lesen ist, und mit Auswirkungen von Hochsensibilität auch nicht. Wenn Frau Senegal sich (nur) als braves Mädchen gefühlt und scheinbar noch nie Erlösungsbedürftigkeit gespürt hat, hat sie das Wesentliche wohl noch nicht verstanden. Als Kind mag das sein, im Kontext Erwachsener stimmt hier ganz anderes nicht als die jüdisch-christliche Theologie. Ohne Erkenntnis der eigenen Schuld im Leben bleibt die Befreiung durch Jesus Christus natürlich verborgen, wie auch die wesentlichen Aussagen der Bibel, sowohl im Alten wie im Neuen Testament. Statt sich ein neues Gottesbild zu basteln und damit viele Menschen in die Irre zu führen, möge sie lieber den Gott der Bibel suchen, auch in Gesprächen mit reiferen Christen. “Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen, spricht JHWH.” (Jer. 29,13 f.)
Dieser Kommentar ist meines Erachtens ein hervorragendes Beispiel dafür, die Menschen, die ihren Schwerpunkt offensichtlich im blauen oder traditionellen Bewusstsein haben, alles, was ihrem Bild der Wahrheit widerspricht, abwerten müssen und dabei sogar, wenn auch vermutlich unbewusst oder unbeabsichtigt, verletzend und überheblich werden und es verstehen, die Bibel geschickt manipulativ für ihre Zwecke einzusetzen, nämlich den anderen, von ihrer, selbstverständlich der einzig richtigen Version der Wahrheit, zu überzeugen.