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Jesus als Lehrer des nondualen Bewusstseins

Rezension des neuen Kommentars zum Thomasevangelium von William G. Duffy, „The Hidden gospel of Thomas. Commentaries on the Non-Dual Sayings of Jesus“, 2020

Das Buch beginnt mit einer historischen Einordnung. Wer sich dafür interessiert, den verweise ich gerne an meinen einführenden Artikel: Das Thomasevangelium.

Das besondere dieses Kommentars ist nun, dass es Jesu als Lehrer der Nondualität versteht und von daher versucht, seine Sprüche aus den Erkenntnissen eines nondualen (oder Einheits-)Bewusstseins neu zu deuten. Das macht den Verfasser natürlich, das gibt er zu, geneigt, mit anderen Forschern anzunehmen, dass das Evangelium noch vor den übrigen aus dem Neuen Testament entstanden sei und daher als das ursprünglichste gelten könnte.

Nach einigen weiteren Vorbemerkungen geht der Verfasser alle Sprüche der Reihe nach durch, wobei er zunächst die unter den Forschern gängige Deutungen vorstellt.
Ein großer Schatz des Buches hierbei ist, dass jeder Spruch in allen verfügbaren Varianten aufgeführt wird, aus der koptischen Nag Hammadi, der griechischen Übersetzung und den zitierenden Kirchenvater, Clemens von Alexandrien. Schon hier wird sichtbar, dass die sprachliche Formulierungen völlig unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten eröffnet oder verschließt.

Die nachfolgende Interpretation jedes der Sprüche wird durchgehend von der Grundthese des Verfassers bestimmt: Er versteht Jesus als einen Lehrer des nondualen Bewusstseins oder auch Einheitsbewusstseins.

Indem Jesu die Welt nicht in den üblichen Kategorien eines Bewusstseins der Separation, also Getrenntheit, wahrnimmt, sondern sie als eine Einheit versteht, müssen seine Aussprüche für den Otto-Normalbürger zunächst befremdlich, wenn nicht gar völlig unverständlich erscheinen.

Es sei denn, er erinnert sich wieder an eine seiner frühesten Kindheitserfahrungen, wie das Trinken an der Brust der Mutter, oder an eine Gipfelerfahrung der All-Verbundenheit. Dann weiß er intuitiv, was Jesus mit dem „Himmelreich“ oder „dem Reich Gottes“ meint: Der Ort, wo auch unsere eigene Identität mit dem Göttlichen erkannt wird – und damit auch unsere Verbundenheit mit allem.


„Tatsächlich haben viele Kommentatoren ihre Faszination für Thomas zum Ausdruck gebracht, während sie gleichzeitig zugaben, dass für sie einige der Sprüche überhaupt keinen Sinn ergaben.

Auszug aus: William G. Duffy. „The Hidden Gospel of Thomas: Commentaries on the Non-Dual Sayings of Jesus“, eigene Übersetzung.

Was die Sprüche so hochgradig schwer verständlich mache, so William G. Duffy, sei auch die metaphorische Sprache und die enthaltenen Anspielungen. Daher schlüsselt er in seinen Ausführungen sog. Code-Wörter auf, wie z.B. „Haus“ für eine Denkstruktur oder „Platz“ für das Himmelreich Gottes, den Bewusstseinszustand, in dem Jesus sich befand. Als Hinweise für ein richtiges Verständnis dienen ihm dabei die Untersuchung einzelner Wörter oder wiederkehrender Phrasen in den Originalsprachen griechisch und koptisch (z.B. bedeutet dann die deutsche Übersetzung mit „sie werden stehen wie ein einziger“ eigentlich eher „sie werden zum Bewusstsein der Einheit erwachen“) und eines Abgleichs mit anderen Stellen im selben Evangelium.

Seine Erläuterungen sind verständlich geschrieben und durchweg erhellend, manchmal aber auch schwierige geistige Kost. Wer davor inhaltlich wenig mit dem Thomasevangelium anfangen konnte, wird mit großer Wahrscheinlichkeit ein Aha-Erlebnis haben oder sich gar in diese Sprüchesammlung verlieben. Ich wünsche mir daher, dass dieses oder ein ähnliches Buch bald auf dem deutschen Markt erscheint.

Ich möchte mit einer Deutung des Logion 2 enden, an der sich die Tragweite dieser neuen Betrachtungsweise illustrieren lässt: Aus einem Einheitsbewusstsein heraus lösen sich die Grenzen zwischen außen und innen auf, zwischen transzendent und immanent. Gott ist weder weit weg da draußen, noch ist er ausschließlich tief in unserem Inneren verborgen: „Denn das Königreich ist in eurem Inneren und eurem Äußeren.“ In der Erleuchtung erkennt der Mensch seine wahre göttliche Identität: „ihr werdet wissen, dass ihr die Kinder des lebendigen Vaters seid.“ Solange die Erleuchtung ausbleibt, lebt der Mensch in einem Bewusstsein der Unzulänglichkeit: „dann werdet ihr in Armut sein.“

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