Interview mit Yvonne Ortmann
Liebe Yvonne, seit wann beschäftigst du dich mit dem Thema „Schattenarbeit“?
Vor eineinhalb Jahren bin ich auf den Begriff „Schattenarbeit“ gestoßen, war sofort fasziniert und fing an, mich intensiv damit zu beschäftigen. Der eigentliche Durchbruch war aber schon früher: Vor zehn Jahren erfuhr ich, dass es in den ersten Jahrhunderten christliche Wüstenväter und –mütter gab, die sich in die Einöde zurückzogen und dort erst sich selbst und dann Gott fanden. Dabei habe ich das Zusammenspiel von Psychologie und Spiritualität besser verstanden und mich auf christliche Meditation eingelassen, insbesondere auf das Herzensgebet.
Wie würdest du Schattenarbeit in einem Satz zusammenfassen, wenn du es jemandem erklären müsstest, der noch nie davon gehört hat?
In der Schattenarbeit holen wir unseren inneren Schatten ans Licht. Unser Schatten besteht aus all den Anteilen, die wir an uns so inakzeptabel fanden, dass wir sie verbannt und verdrängt haben – und sie jetzt nur noch an anderen wahrnehmen. Indem wir sie ans Licht holen und dann lernen, sie anzunehmen und zu integrieren, werden wir zu „ganzeren“ Menschen – also zu Menschen, die keine Energie mehr darauf verwenden müssen, Teile ihres Selbst unter die Wasseroberfläche zu drücken.
Was sind denn typische Schattenthemen?
In mein Selbstbild passte es zum Beispiel nie, wütend oder aggressiv zu sein. Ich wollte liebenswert und sanftmütig sein – wie viele christlich geprägten Menschen, insbesondere Frauen. Weil ich mein Wut ablehnte, wurde sie zerstörerisch: Zerfraß mich von innen, raubte mir Energie und brach sich manchmal ungehindert Bahn. Ein echtes Schattenthema! Jemand anderes hasst Geiz, weil er seine Eltern als geizig erlebt hat, und gibt sich betont großzügig – ohne zu merken, dass der Geiz auch in ihm selbst steckt.
Man sagt ja manchmal, wenn man auf etwas übertrieben stark emotional reagiert, also die eigene Reaktion der aktuellen Situation nicht wirklich angemessen ist, ist das ein Hinweis auf ein Schattenthema. Aber kann es dazu nicht auch andere Gründe geben? Z.B. von Vorfahren ererbte Erinnerungen an schlechte Erfahrungen? Oder einfach eine körperliche Ursache dahinter stecken wie Hunger, Erschöpfung, starke Erregtheit, ausgeprägte Sensibilität? Was meinst du dazu?
Es gibt bestimmt ganz viel, was dazu beiträgt, dass wir auf etwas stark emotional reagieren. Trotzdem steckt immer auch ein Hinweis auf ein Schattenthema dahinter. Stress sorgt dafür, dass ich weniger Kontrolle über mich habe. Ich kann meinen Schatten dann weniger unter der Oberfläche halten kann als im „Normalzustand“. Hunger und Erschöpfung sind dann mit ein Auslöser für einen Schattenausbruch, aber selten die Ursache.
Hast du ein Beispiel?
Als Mutter passiert es mir immer wieder, dass ich in einer Stresssituation übertrieben krass reagiere und schon im Moment merke: Das hat jetzt nicht nur mit meiner Müdigkeit zu tun. Aber die Müdigkeit öffnet die Schleusen. Wenn ich es dann schaffe, kurz in mich hineinzuhorchen, merke ich: Ich habe kurz zuvor über etwas Negatives gegrübelt. Oder bin morgens aus einem Traum gerissen worden, in dem wohl auch innere Dinge verarbeitet wurden. Fast immer finde ich etwas, was über die Diagnosen „Hunger“, „Erschöpfung“, „Sensibilität“ hinausgeht.
Und was ist mit von Vorfahren ererbten Erinnerungen und Ängsten?
Schattenarbeit im engeren Sinn sucht nach dem, was wir selbst im Laufe unseres Lebens in einen Sack gesteckt und zugebunden haben. Bei Ängsten und Erinnerungen, die uns von unseren Vorfahren mitgegeben wurden, reicht diese Form der Auseinandersetzung nicht aus. Da braucht es Ansätze, die z.B stärker den Körper mit einbeziehen, da im Körper sämtliche Gefühle, auch Traumatisches, abgespeichert sind. Im weiteren Sinn kann man das auch zu Schattenarbeit zählen.
Wann hältst du Schattenarbeit für sinnvoll? Nur dann, wenn ich an einer Stelle in meinem Leben merke, dass mir etwas immer wieder ähnlich passiert, Menschen negativ auf mich reagieren oder ich an einer Stelle nicht weiter komme – oder sollte man Schattenarbeit am besten völlig unabhängig von äußeren Umständen regelmäßig präventiv machen?
Normalerweise beginnt man mit einem Thema wie Schattenarbeit dann, wenn man vom Leben dahin „gestoßen“ wird. Also wenn man spürt, dass etwas nicht rund läuft und man daran etwas ändern möchte. Wer findet, dass alles in seinem Leben rund läuft, soll sein Leben gerne in vollen Zügen genießen und sich von Schattenarbeit fern halten! Ich selbst kenne so jemanden nicht
Ist Schattenarbeit etwas für jedes Alter?
In den ersten 20 Jahren bauen wir uns unsere Persönlichkeit auf, und damit auch unseren Schatten, aber das ist für diese Lebensphase okay. Die Persönlichkeit, die wir uns aufbauen und die manche „Ego“ nennen, hilft uns, im Leben Fuß zu fassen. Jedenfalls erstmal. Irgendwann in Richtung Lebensmitte geht es dann darum, die „aufgesetzten“ Teile langsam wieder abzustreifen und Verborgenes ans Licht zu holen, um zu unserem authentischen Selbst zu finden. Wir spüren dann selbst, oder Krisen bringen uns dahin, dass wir authentischer, ganzer, vollständiger sein wollen. Schattenarbeit mit Kindern heißt für mich, ihre innere Stimme und Entscheidungsfähigkeit zu stärken, so dass es später mal nicht ganz so viel gibt, was sie sich mühsam zurückerobern müssen.
Du hast dich auf die Suche nach den Ressourcen für Schattenarbeit aus der christlichen Tradition gemacht. Ken Wilber selbst sagt ja, es gäbe in den Weisheitstraditionen dazu gar nichts, was der modernen Psychologie vergleichbar wäre, er habe jahrzehntelang mit seinen Schülern danach gesucht…
Die Aussage von Ken Wilber über die großen religiösen Traditionen hat mich damals sehr getroffen. Er sagte sinngemäß: Ihr größtes Problem sei, dass sie davon ausgingen, bestimmte Formen wie Gebet oder Meditation reichten aus, um einen Menschen innerlich zu verwandeln. Dies führe zwar zu spirituellen Erlebnissen, die durchaus „echt“ sind, aber nicht dazu, der „dunklen Seite“ in sich zu begegnen und diese zu transformieren. Ich dachte: Wenn das stimmt, was für ein Armutszeugnis für unsere Religion! Ich habe mich dann auf die Suche gemacht, ob die christliche Tradition tatsächlich keine Schattenarbeit anbietet, mit der wir an der Transformation unseres Selbst mitwirken können.
Was sind deine bisherigen Fundstücke?
Ich bin darauf gestoßen, dass Schattenarbeit in den ersten Jahrhunderten bei den Wüstenvätern und –müttern sehr wohl ein großes Thema war! Sie waren die vielleicht ersten christlichen Therapeuten und Geistlichen Begleiter – nicht weil sie Psychologie studiert haben, sondern weil sie in der Abgeschiedenheit mit ihren „inneren Dämonen“ gekämpft und als Sieger hervorgegangen sind. Allein das machte sie zu den kompetentesten Seelsorgern, die sich die Menschen vorstellen konnten, weshalb die Leute in Scharen zu den abgelegenen Einsiedeleien pilgerten.
Hat auch Jesus Schattenarbeit praktiziert und seinen Jüngern empfohlen?
Und ob! Das war für mich die wichtigste Erkenntnis überhaupt. Jesus ist der ultimative Schattenlehrer schlechthin. Natürlich nicht unter dieser Überschrift, aber wenn man die Evangelien mal mit dieser Brille liest, merkt man, dass Jesus immer wieder genau das versucht hat, worum es in der Schattenarbeit geht: Er wollte die Menschen dazu bringen, das Äußere und das Innere miteinander in Einklang bringen. Deshalb spiegelte er den Pharisäern andauernd ihr ambivalentes Verhalten. Weil die Pharisäer so resistent waren und ihre Abgründe lieber weiter auf andere projizierten, hat er ihnen des Öfteren ein Brett vor den Kopf gehauen. Aber auch seine Jünger kamen in den Genuss von Schattenarbeit. Petrus zum Beispiel durfte lernen, dass in ihm nicht nur der mutige Draufgängers steckt, sondern auch ein Feigling. Jesus deckte das behutsam auf und ermöglichte so Heilung. Ein Satz von Jesus könnte auch heute noch als Leitsatz über jeglicher Schattenarbeit stehen: Die Aufforderung, dass wir nicht den Splitter im Augen der anderen sondern lieber unseren eigenen Balken wahrnehmen sollen. So funktioniert Schattenarbeit.
Mir sind noch die Rituale Beichte und der Exorzismus eingefallen. Magst du dazu etwas sagen?
Beichte und überhaupt die Zusage von Vergebung und Versöhnung helfen bei der christlichen Schattenarbeit, weil wir damit innere Barrieren wie Selbstanklage überwinden können. Wir brauchen nicht mehr in den Widerstand gehen mit dem, was wir sind und getan haben, sondern dürfen alles an uns annehmen und auf dieser Grundlage neu durchstarten.
Und wie ist es mit Exorzismus?
Das Thema Exorzismus und überhaupt Besessenheit ist vielschichtig. Sicherlich wurden früher Phänomene als „Besessenheit“ gedeutet, die wir heute wissenschaftlich als „Psychose“ oder „Schizophrenie“ bezeichnen. Laut mancher Schattenarbeitslehrer wie z.B. Rüdiger Dahlke kann es sich bei diesen psychischen Störungen aber durchaus um Schattenausbrüche handeln – in diesen Fällen ist die Lösung dann weder klassische Dämonenaustreibung noch die dauerhafte Gabe von dämpfenden Medikamenten, sondern: Auseinandersetzung mit den zugrunde liegenden Schatten. Und so gesehen dann doch Dämonenaustreibung. Besessenheit in diesem Sinn bedeutet, dass der innere Schatten das Ruder in meinem Leben übernimmt und nicht mehr das bewusste Ich. Das wird tatsächlich wie die Übernahme durch eine fremde Macht erlebt.
Sandra: Vielen Dank, Yvonne, für unser Gespräch!
Yvonne Ortmann ist Pastorin, Autorin und gibt Seminare im Bereich Mystik, christliche Meditation und postmoderne Spiritualität. Sie ist Mitglied des Steuerungsteams unserer Plattform Integrales Christsein, wo sie den Channel „Schattenarbeit“ verantwortet, und schreibt aktuell an einem Buch zum Thema „Schattenarbeit und christliche Tradition“. Wer an ihren Online-Meditationen „Lectio Divina“ oder dem Online-Seminar “KraftWort: Mit Kraft und Fokus in dein Jahr 2021“ am 4. Januar teilnehmen möchte, kann sich über ihre Webseite informieren: https://www.yvonneortmann.de/angebote/, auf der sie ebenfalls regelmäßig bloggt.
Zu den Wüstenvätern: Deren “Psychologe” war ja Evagrios Pontikos, und was ich bei ihm wirklich erhellend fand, ist wie er die Ursache von Depression beschreibt. Bei ihnen hieß das “Akedia”, und wurde als der stärkste Dämon angesehen. Ich habe versucht, dieses Phänomen im gleichnamigen Wikipedia-Artikel darzustellen… Vor allem diese Basisverknotung aus Begehren und Zorn, die eine Lähmung für den ganzen Menschen bedeutet. Das Schwerwiegende ergibt sich einerseits aus der Komplexität des im Knoten Verwundenen, und andererseits aus der Permanenz der Lähmung (des Schwermuts, der Trägheit, Melancholie, usw.), da der Knoten im Gegensatz zu seinen einzelnen Bestandteilen ja immer präsent ist.
Ich finde, das passt sehr gut, und so treffend habe ich das in noch keiner klassisch-psychologischen Erklärung gefunden.
Und zum Exorzismus sag ich auch noch was, anhand meiner Quellenlage wurde das nirgends besser beschrieben als von dem amerik. Psychologen Scott Peck (in: Eine Psychologie des Bösen). Er sagt auch, dass es von außen kaum festzustellen ist, wo der Schatten aufhört, und der Dämon anfängt. Aber nachdem er zwei Exorzismen beigewohnt hat, war er überzeugt davon, dass der Schatten eben auch eine zweite, personale Anwesenheit in einem Menschen sein kann.
Ich habe mir mal die Mühe gemacht, einen längeren Ausschnitt aus dem Kapitel zu digitalisieren, sollten Links unverwünscht sein, bitte löschen
http://www.kleine-spirituelle-seite.de/files/template/pdf/besessenheit_und_exorzismus-scott_peck.pdf
Wow! Danke, Eduard, für den äußerst spannenden Text! Sehr aufschlussreich, aber auch ziemlich gruselig… Liebe Grüße
Sehr gerne!
Aber was mir noch… Im obigen Text kommt das Wort “Kreuz” nicht ein einziges Mal vor. Ist die Aufforderung Christi in Seine Nachfolge (“Wer nicht sein Kreuz trägt…”) denn ohne Schattenarbeit denkbar? Das müsste doch eigentlich sehr in der christlichen Mitte stehen…
Ein franziskanischer Priestermönch, der einen Kontemplationskurs geleitet hat, gab zu, dass sein Orden ihm das alles nicht gesagt hat. Das bedeutet, in der klassischen Ausbildung zum “geistlichen Stand” in der Gesellschaft (Theologiestudium, Noviziat) ist das Unbewusste kein Thema.