Ein Gastartikel von Eduard Fassel
Wir sind praktische Menschen, oder zumindest wollen wir das sein. Es ist eine Frage der persönlichen Integrität, dass man reines Wunschdenken und bloße Lippenbekenntnisse meidet und alles daran setzt, authentisch zu leben. Doch wenn man mit diesem Anspruch das Evangelium aufschlägt, und liest von dieser uneingeschränkten Ausrichtung auf Christus, diesem bedingungslosen „Folge Mir nach!“ und der rigorosen Entsagung, die damit verbunden wird, dann kann manch einer hohen Blutdruck bekommen. Wer kann diese Botschaft wirklich leben – nicht wer es möchte, wer kann es? In diesem Spannungsfeld eröffnet sich ein breites Spektrum christlichen Selbstverständnisses…
Ein Novize eines großen deutschen Ordens hat mir einmal bei einem Gespräch über die nicht geringen Besitztümer des Klosters gesagt, dass der Ordensgründer die Armuts-Regel gar nicht so radikal gemeint habe, man müsse das im zeitgeschichtlichen Kontext sehen. Das wurde wohl in der Ausbildung so vermittelt, und schien theologischer Konsens zu sein. Aber sollte nicht das monastische Leben die Nachfolge Christi aufs bestmögliche abbilden? Leider hat sich offenbar im Laufe der Zeit, auch aufgrund eines Mangels an lebenden Vorbildern, eine Lauheit entwickelt, die ihren Höhepunkt in der Aussage des angehenden Mönchs findet. Mir stellt sich daher die Frage, wie christliche Ideale so weit runtergezogen werden konnten, dass sie teils nicht einmal mehr im Ordensleben wörtlich genommen werden?
Das Problem undifferenzierter Ideale in den Evangelien
Liebe deinen Nächsten, halte auch die andere Wange hin, gib alles auf, Gottes Wille geschehe – an ideellen Impulsen mangelt es wahrlich nicht. Wenn ich mich jedoch in der religiösen Landschaft umsehe, dann wird für mich diese Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit anderweitig gar nicht so fühlbar.
Das Image von Entsagung beispielsweise war bei dem indischen Heiligen Ramakrishna nicht etwas Grimmiges, auf Knien unter Tränen und Fasten Errungenes, sondern ein natürlicher Wesenszug, den die intensive Hingabe an seine Gottheit mit sich brachte. In Bezug auf das religiöse Leben hatte er unterschiedliche Ansprüche gestellt, je nachdem, ob er zu Mönchen oder Familienvätern gesprochen hat. Oder nehmen wir Buddha, der als erster die monastische Lebensform eingeführt hat. Seinen Mönchen gab er 227 Regeln zu befolgen, den Laien aber nur fünf.
Abhängig von den Adressaten findet man dabei oftmals eine Abstufung bezüglich des angestrebten Ziels. Für Menschen, die das Gelübde der Entsagung abgelegt haben, gilt das höchste spirituelle Ideal der Selbst- oder Gotteserkenntnis; wohingegen für die in der Welt Lebenden erstmal ein „heilsames Leben“ (buddhistische Strömungen) oder „Wellbeing“ (Kursprogramme des Yogi Sadhguru) vorne hingestellt werden. Diese Abstufung wird dadurch begründet, dass sich die wenigsten Menschen wirklich vom höchsten Ideal angezogen fühlen. Zuerst einmal müssen sie in die Lage versetzt werden, ein gutes und erfülltes weltliches Leben zu führen, um so zu einer inneren Sättigung und dem Wunsch zu gelangen, überhaupt etwas darüber hinaus erfahren zu wollen.
Möglicherweise hat auch Christus zur Menge anders gesprochen als im Kreise seiner Jünger, und wiederum anders, als er in der Synagoge zu den Gelehrten sprach. Nur gehen differenzierte Anforderungen aus den Evangelien nicht klar hervor. Nehmen wir exemplarisch hierfür das Ideal der Feindesliebe. Direkt im Anschluss an Mt 5,38-47 sagt Christus: „Seid also vollkommen …“ Die hier geforderte Widerstandslosigkeit ist also nichts weniger als ein Ausdruck von Vollkommenheit, die mit universaler Liebe einhergeht. Da aber kaum einer von uns dazu fähig ist, braucht es eine Abstufung des Ideals, gerade auch deswegen, damit es nicht runtergezogen wird. Ein Feigling könnte es so als Vorwand benutzen, seinen Widersacher gewähren zu lassen. Es ist bezeichnend, wenn Mahatma Gandhi sagt, dass er es nicht dulden könne, dass ein Feigling bei der sogenannten Gewaltlosigkeit Zuflucht nimmt. Wir müssen also einen Zwischenschritt mit hineinnehmen: Es geht darum, die Kraft zum Widerstand zu erlangen, und wenn wir sie erlangt haben, sollen wir mit aktiver Feindesliebe darauf verzichten.
Man kann nur annehmen, dass die Erwartungen Jesu entsprechend seinen Zuhörern unterschiedlich waren. Für Heilungen schienen diese nicht sonderlich hoch gewesen zu sein, die Menschen mussten ein gewisses Maß an Glauben und Offenheit für ihn mitbringen. Dabei ist wahrscheinlich, dass die Erfahrung eines Wunders nicht für jeden Geheilten automatisch eine innere Umkehr zur Folge hatte, und dass Jesus das auch wusste. Dagegen gab es zwei Personengruppen, mit denen er besonders hart war: die Pharisäer, die als geistlicher Stand versagten, und die Anwärter für seine Jüngerschaft. Ihnen gegenüber war Jesus unbestechlich – entweder sie geben alles auf, oder sie haben bei ihm nichts verloren. In Lk 9,57-62 feuert er eine Gewehrsalve der Entsagung auf die ab, die sich ihm anschließen wollen. Es ist klar, dass seine abschließenden Worte: „Keiner, der die Hand an den Pflug gelegt hat und nochmals zurückblickt …“, nicht an einen am Wegesrand arbeitenden Bauern gerichtet waren. Seine Worte waren beispielgebend für die Menschen, denen aufgetragen war, alles zu verlassen und für eine größere Sache zu wirken. Sie sollten die Kraft erlangen, seine Botschaft und Zeichen nach seinem Tod in die Welt zu tragen. Fähig (oder „auserwählt“) für diese hohen Anforderungen sind immer nur wenige. Auch die mystischen Aussprüche wie „Ich und der Vater sind eins“ wurden wohl überwiegend zu diesem inneren Kreis gesprochen.
Wird das Ziel in Bezug zur Lebensform gesetzt und in mehrere Etappen unterteilt, fällt es leichter, die Ideale bestehen zu lassen. Dann hat jeder auf seiner Stufe ein klares und forderndes (aber nicht überforderndes) Leitbild, bei dem alles nach oben hin offen ist. Durch eine undifferenzierte Betrachtung solch hoher Ideale wie der Feindesliebe und der Besitzlosigkeit besteht die Gefahr, dass deren Verbindlichkeit verlorengeht oder sie völlig runtergezogen werden.
Der „Sohn Gottes“ und das Problem der Überhöhung
Mit Interesse verfolge ich, was Vertreter anderer religiöser Strömungen über Christus sagen.(*) Auffällig ist hier, dass vor allem indische Mönche und Mystiker die Immanenz besonders hervorheben, und die Aussage „das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (eine Übersetzungsvariante von Lk 17,21) als den entscheidendsten Ausspruch Jesu anführen. Die Begründung ist folgende: Bei solchen Weltlehrern ist ein Gleichgewicht zwischen ihrem menschlichen und ihrem göttlichen Wesen wichtig, um die Menschen in richtigem Maße anzuziehen.(**) Überwiegt der menschliche Anteil, dann geht der Ansporn zu Streben verloren, was ebenfalls geschieht, wenn der göttliche Teil überwiegt, denn dann wird das Kreuz an die Wand gehängt, und verbleibt auch dort. Dies ist offenbar der Eindruck, den christliche Religiosität auf Außenstehende macht, dass derjenige, der sich selbst als „Menschensohn“ bezeichnet hat, insbesondere durch seine Wunderheilungen und seine Auferstehung vom Tode, vielmehr zum „Gottessohn“ wurde. Durch dieses Bild eines übermenschlich erscheinenden Christus kann den Gläubigen das Bewusstsein abhandenkommen, dass es für sie tatsächlich möglich ist, das höchste Ziel zu verwirklichen und so zu werden, wie er. Die Aufforderung „Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist!“ (Mt 5,48) wird dann zu einer völligen Utopie, was naturgemäß zu einer Unterminierung der von Christus geforderten Ideale führt.
Nicht zuletzt ist immer auch ein Mangel an Vorbildern, die diese Ideale für alle sichtbar vorleben, ein entscheidender Grund dafür, dass im Laufe der Zeit eine schleichende Degeneration von religiöser Substanz eintritt. Aufgehalten werden kann diese nur, wenn zeitgemäße praktische Wege Verbreitung finden, die innerlichen Fortschritt ermöglichen und so die natürliche Anziehung, die religiöse Ideale auf die Seele ausüben, erneut zutage treten lassen.
(*) Swami Vivekananda: Christus, der Verkünder
Sadhguru: Jesus Christ Superstar
Swami Prabhavananda: Die Bergpredigt in der Auffassung des Vedanta (1) und (2)
Sri Aurobindo in seinem spirituellen Epos „Savitri“ über das göttliche Opfer
(**) vgl. Katechismus 464: Jesus Christus ist wahrer Gott und wahrer Mensch.
Weitere Gastartikel von Eduard Fassel findet ihr hier: Die Gefahren und Chancen des Dienens, Erlöst durch Jesus?!
Seine Seite: http://www.kleine-spirituelle-seite.de/home.html
Bild: Desi Maxwell, Pixabay
Lieber Herr Fassel,
herzlichen Dank für diesen spannenden Beitrag. Ich habe mich in letzter Zeit intensiver mit Nachfolge beschäftigt. Dabei bin ich auch wieder neu auf den enormen Anspruch gestoßen, der zum Beispiel in Lukas 9,62 von Jesus erhoben wird. Auf meinem Blog habe ich ein paar Gedanken dazu aufgeschrieben und mir selbst die Frage gestellt, ob ich mich nach diesem Maßstab überhaupt als Nachfolger Christi sehen kann.
Der Gedanke einer Abstufung des Ziels ist mir, ehrlich gesagt, noch nie gekommen. Ich bin mir auch nicht sicher, wie ich dazu stehen soll. Was ich aber nachvollziehen kann, ist, dass das verhindern kann, das Ziel komplett aus den Augen zu verlieren und zumindest sich auf den Weg zu machen. Außerdem erklärt es auch manche Differenzierungen, die bei Jesus in den Evangelien zu beobachten sind.
Noch einmal vielen Dank für diese Anregung zum Nachdenken!
Mit herzlichen Grüßen,
Uwe Hermann
Ein Nachtrag zu der Abstufung des Ideals der Feindesliebe bei den Wüstenvätern:
Ein Bruder fragte einen Alten: ‚Was ist die Demut?’ Dieser antwortete: ‚Tu Gutes denen, die dir Übles tun.’ Darauf fragte der Bruder weiter: ‚Wenn aber ein Mensch nicht bis zu diesem Maße gelangt, was soll er dann tun?’ Der Greis antwortete: ‚Er muss fliehen und schweigen.’ (Apophtegmata 1071)