Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren, und nicht in dir: du bleibst noch ewiglich verloren.
136, Evangelisches Gesangbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg
Weihnachten als Erwachen in die ewige Seligkeit
Vordergründig feiern wir an Weihnachten die Geburt des historischen Jesu, der für uns bis heute nicht nur durch seine überlieferten Worte und Taten als spiritueller Lehrer, sondern auch als aufgestiegener Meister und spirituelle Wesenheit Bedeutung hat.
Hintergründig geht es in dem Mythos vom Gottessohn auch immer um uns und unseren Aufstieg.
Im traditionellen Bewusstsein werden diese Aspekte nicht getrennt, sondern der Mythos historisch, d.h. wortwörtlich gedeutet.
Doch die Gesangbücher geben auch leise Hinweise für andere Deutungen, so der obige Satz von Johann Scheffler alias Angelus Silesius.
Derselbe dichtete auch Sätze wie:
Entwächsest du dir selbst und aller Kreatur, So wird dir eingeimpft die göttliche Natur.
Cherubinischer Wandersmann, Erstes Buch. Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 3, Herausgegeben und eingeleitet von Hans Ludwig Held, München: Hanser, 1952.
(Dazu eine winzige Anmerkung, die ich mir angesichts des Zeitgeschehens nicht verkneifen kann: Johann Scheffler, der Dichter aus Breslau, war tatsächlich Mediziner, bevor er zum Katholizismus übertrat und Mönch wurde. Aber geimpft hat er damals im 17. Jahrhundert noch nicht – das Wort “impfon” hatte im Althochdeutschen die Bedeutung “veredeln” und stammt aus dem Wein- und Obstanbau.)
Die knappen Zweizeiler verdichten mystische Erfahrungen, indem sie vermeintlich paradoxe Aussagen aufeinandertreffen lassen. Etwas im Grunde Unsagbares soll hier in Worte gefasst werden. Die ersten fünf Bücher der Sammlung entstanden noch, bevor Angelus zum Katholizismus konvertierte und enthalten Gedanken, die eine Nähe zu pantheistischen Auffassungen haben: Immer wieder wird eine allen Erscheinungen zugrunde liegende Einheit beschworen, in der keine Grenzen zwischen Gott, der Natur und dem Menschen mehr zu existieren scheinen. Wer Gott nicht im Grunde seines Herzens und seiner Seele erfahren kann, wird nicht in der Lage sein, ihm näherzukommen – schon gar nicht durch vernunftgeleitete Reflexionen.
https://www.pohlw.de/literatur/sadl/barock/angelus/
Es geht um die Gottesgeburt in uns, die Erkenntnis unseres göttlichen Wesens:
Berührt dich Gottes Geist mit seiner Wesenheit, So wird in dir geborn das Kind der Ewigkeit.
Auf diesem Weg des Erwachens gibt es verschiedene Stufen der Gottesbeziehung, die Johann Scheffler ebenfalls benennt:
Fünf Staffeln sind in Gott: Knecht, Freund, Sohn, Braut, Gemahl; Wer weiter kommt, verwird und weiß nichts mehr von Zahl.
Mit dem heutigen Wissensstand über spirituelle Entwicklung könnten wir diese fünf Staffeln bzw. Stufen folgendermaßen stichwortartig zusammenfassen:
- 1. Baby/Kleinkind: Undifferenzierter/Magischer Glaube. Ahnen und Naturgeister, Polytheismus.
- 2. Freund/in: Mythisch-buchstäblich/konventioneller Glaube, Monotheismus, Mythischer Gott außerhalb/gegenüber von uns.
- 3. Sohn/Tochter: Individuell-reflexiver Glaube. Abschied vom mythischen Gott, Agnostizismus, Atheismus, Pan(en)theismus, Beginn von Kontemplation, Naturmystik.
- 4. Braut/Gemahl: Aufscheinen eines neuen, inneren Gesichtes Gottes, Liebesmystik, reines Gewahrsein oder Zeugenbewusstsein.
- 5. Mutter/Vater: Dauerhafte Kontemplation, Einheitsmystik. Das Göttliche verkörpern, das Körperliche vergöttlichen.
Jesus erfüllt für uns Christen dabei die Funktion eines Urbildes oder Archetyps und symbolisiert die bewusste Verbindung von göttlichem Geist (gr. Logos) und dem Körper (gr. Sarx). Solange wir unsere göttliche Natur auf diesen Archetyp projizieren, stagniert unsere spirituelle Entwicklung.
Wenn wir beginnen, diese Projektion Schritt für Schritt abzubauen, indem wir mehr und mehr das Göttliche in unserem tiefsten Selbst erkennen, wechseln wir von einer Stufe zur nächsten: von der Identifikation mit dem grobstofflichen Körper hin zu der mit dem subtilen (Seele) und dem kausalen (Gott).
Die Seel ist ein Kristall, die Gottheit ist ihr Schein; Der Leib, in dem du lebst, ist ihrer beider Schrein.
Idealerweise begleitet uns das Kirchenjahr durch diese Stufenwechsel hindurch. Advent steht dabei für eine Vorahnung, eine Vorfreude auf tatsächliche Veränderung, Weihnachten für die Geburt, den Beginn einer neuen Gottesbeziehung und damit einer neuen Identität, Karfreitag für das endgültige Abstreifen/Sterben der alten Beziehung und Ostern für eine neue Dimension/Frequenz/Struktur.
Diese Stufen sind nicht im Sinne einer Wertigkeit von besser, höher, schneller misszuverstehen. Es sind ebenso notwendige, wie schöne Stufen. Wir durchlaufen Stufen des Wachstums und sind doch in der Tiefe einfach immer identisch mit Gottes ICH-BIN. So zeigt sich das Göttliche im Baby anders als im alten Mann, doch erst alles zusammen ergibt das Ebenbild:
Der Säugling hat eine andere Lebendigkeit und Schönheit der Gestalt, das Kind eine andere, eine andere der Jüngling, der Mann, der Greis. Jede ist in ihrer Art ein vollständiger Ausdruck des Lebens und der Schönheit; es ist derselbe Mensch, der sie alle nach einander an sich trägt, aber in demselben Moment zusammengedacht löschen sie sich wechselseits aus. Doch liegt nur im wirklichen und stetigen Zugleichsein aller Gestalten, deren jedes Wesen an sich fähig ist, die Vollständigkeit seiner Natur und seine ganze Aehnlichkeit mit Gott: derselbe Mensch, als Säugling, Kind, Jüngling, Mann und Greis gedacht, giebt erst das Bild des Menschen selbst. […] Je reicher an Bildung und Leben ein Wesen ist, je mehrere und je innigere Gegensätze harmonisch in ihm vereint sind, ein um so reicheres und herrlicheres Ebenbild Gottes ist es.
Karl Christian Friedrich Krause, Das Urbild der Menschheit. Ausgabe 1851
Krauses Äußerungen erinnern stark an Jean Gebsers Ausführungen zur Zeitfreiheit: In dieser, dem ewigen Jetzt, fällt Weihnachten und Ostern, Geburt und Sterben zusammen. Im Baby Jesus ist bereits der dreißigjährige Erleuchtete gegenwärtig. Wo wir ganz mit unserem Ursprung zusammenfallen, ist immer Weihnachten, immer festliche Atmosphäre, gehobene Stimmung, Lichtermeer und Liebesrausch.
Ich wünsch euch allen schöne Weihnachten…!
Weiterführende Quellen:
James Fowler, Stufen des Glaubens.
Terri O`Fallon, Die Evolution der menschlichen Seele: Entwicklungspraktiken der spirituellen Führung.
Wulf Mirko Weinreich, Gott entwickelt sich! Einige Aspekte einer integralen Spiritualität.