Philosophien für das 21. Jahrhundert
Für Daniel Görtz/Hanzi Freinacht, den Vordenker der „Nordic School of Metamodernism“, umfasst der Begriff „Metamodernismus“ (auch “Metamoderne”) sechs Aspekte:
1) eine kulturelle Phase
2) eine Entwicklungsstufe der Gesellschaft
3) ein Meta-Mem
4) eine seltene Stufe psychologischer Entwicklung
5) ein bestimmtes Paradigma bzw. eine philosophische Strömung, die Meta-Theorien entwickelt
6) eine Bewegung.
Görtz, Daniel, in: Parallax Lecture 004: WHAT IS METAMODERNISM with Daniel Görtz (“Hanzi Freinacht”), https://www.youtube.com/watch?v=K2GQjylmv2U&t=281s, (Zugriff: 2.9.2022)
Der Begriff „integral“ wird ähnlich vielschichtig verwendet wie der Begriff “metamodern”, weswegen ich beide auf meiner Seite häufig synonym verwenden werde. Manchmal begegnet auch der Ausdruck „post-postmodern.“ Das Anliegen dahinter ist jeweils dasselbe: Die Vormoderne, Moderne und Postmoderne (oder nach “Spiral Dynamics” BLAU (und ROT, PURPUR, BEIGE)/ORANGE und GRÜN”) sollen in einer Art übergeordneter Philosophie miteinander versöhnt werden, indem sie sowohl transzendiert, als auch integriert bzw. in ein höheres Ganzes eingefügt werden.
Die Vertreter des Metamodernismus nennen als wesentliches Kennzeichen ihrer Philosophie die Oszillation zwischen zwei gegensätzlichen Polen. So sollen auch die Moderne und die Postmoderne durch die Metamoderne neu verknüpft werden.
Sowohl „integrale“ als auch „metamodernistische“ Meta-Theorien führen Theorien und Erkenntnisse unterschiedlicher Disziplinen in einem übergeordneten, holistischen Modell zusammen. Dadurch ist es möglich, Religionen und Spiritualität in einem neuen Licht zu sehen. Zu den derzeit wichtigsten derartigen Metatheorien gehören
- die Integrale Theorie Ken Wilbers
- das Modell „Spiral Dynamics“ von Graves/Beck/Cowan
- der „Critical Realism“ bzw. die „MetaReality“ von Roy Bhaskar
- die Komplexitätstheorie von Edgar Morin
Tatsächlich geht es wesentlich darum, Modelle zu entwickeln, die helfen, mit Komplexität umzugehen und daher gezwungenermaßen auch immer mit Vereinfachungen und Verallgemeinerungen arbeiten.
Der Autor und Philosoph Dr. Zachary Stein schreibt:
Während eine Theorie innerhalb einer Disziplin typischerweise die Welt als Daten nimmt, nimmt eine Metatheorie typischerweise andere Theorien als Daten.
Aus: Beyond nature and humanity: Reflections on the emergence and purposes of meta-theories, S. 6, eigene Übersetzung.
Meta-Theorien haben verschiedene Funktionen. Aus meiner Sicht sind sie sowohl
- Integrativ, dh. sie streben danach alles zu einem größeren Ganzen zusammenzufügen und miteinander zu versöhnen
- Innovativ, dh. sie entwickeln neue Erklärungsmodelle und dazugehörige Grafiken, inhaltliche Differenzierungen und vor allem neues Vokabular.
- Normativ, dh. sie dienen als ein Paradigma für eine möglichst ganzheitliche Sichtweise, Forschung oder Lebensweise.
- Transformativ, dh. sie verändern das Selbstverständnis der Personen, die sich mit ihrer Hilfe neu mit der Welt und ihrem Leben auseinandersetzen.
[Sie] dienen als epistemische Schiedsrichter innerhalb und zwischen den Disziplinen (dies ist der metakritische Aspekt der Meta-Theorie; oder schlicht Meta-Kritik), aber sie vermitteln auch zwischen den Wissenschaften und der alltäglichen Kommunikation der Lebenswelt – indem sie der Menschheit neue Sprachen an die Hand geben, mit denen sie sich selbst verstehen kann (dies ist die meta-narrative Funktion der Meta-Theorie; oder einfach Meta-Narrative).
Aus: Beyond nature and humanity: Reflections on the emergence and purposes of meta-theories, S. 7, eigene Übersetzung.
Als solche sind sie auch äußerst hilfreich und fruchtbar in der Anwendung auf die Religionen bzw. die Spiritualität, die durch sie einen neuen Ort und neue Funktionen zugewiesen bekommt. Meta-Theorien helfen dabei, blinde Flecken, Verdrängtes oder Unbewusstes (auch an schlummerndem Potential) aufzudecken, Reduktionismus zu vermeiden, (scheinbare) Gegensätze zu versöhnen, Fragmentierung zu überwinden, Ordnung, Orientierung und nicht zuletzt Sinn zu schaffen. Damit erfüllen sie eine wichtige friedensstiftende und heilende Funktion.
Wie geht es euch mit derartigen Theorien? Welche Meta-Theorien kennt ihr schon, welche sind euch neu und kennt ihr vielleicht sogar noch andere Meta-Theorien? Ich freue mich, wie immer, über eure Kommentare und Anregungen!
Quellen:
Turner, Luke: METAMODERNIST // MANIFESTO, http://www.metamodernism.org
Dember, Greg und Linda Ceriello: What is Metamodern?, https://whatismetamodern.com/
Kaiser, Werner: Metamoderne – das neue Integral? Integrales Forum, Blitzlicht #1, Sept. 2021. URL: https://www.integralesforum.org/medien/metamoderne/5402-metamoderne-das-neue-integral?utm_source=newsletter_426&utm_medium=email&utm_campaign=if-news-09-2021
Bild von Pete Linforth, Pixabay
Gerade letzte Woche las ich eine andere, ähnliche Herangehensweise, wie man Vor-, Post- und -Moderne mit einer übergeordneten Philosophie, einer Metaebene, die heutige Zeit besser verstehen könnte.
Der Autor Kai Hellbusch legt in seiner Dissertation die Hauptursachen dar, die für die weltweite Entwicklung in unsere dystopischen Zeiten verantwortlich gemacht werden könnten. Ich skizziere hier kurz seine Gedankengänge, kann aber nicht ausschließen, dass auch Gedanken von mir mit einfließen.
Seit etwa 1890 ist die ganze Menschheit durch neue Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten immer näher zusammengerückt. Das bedeutet für alle unterschiedlichen Kulturen dieser Welt, dass sie nicht mehr abgeschottet sind, sondern mehr und mehr regen Austausch pflegen. Durch die veränderte Wahrnehmung von Raum und Zeit verändert sich die eigene Kultur hin zu den anderen Kulturen. Demzufolge ist, weil immer der kleinste gemeinsame Nenner gepflegt wird, eine Abflachung jeder einzelnen Kultur nachzuweisen. Schon lange hat auch Europa seine eigene genuine Kultur in Richtung Multikulti aufgegeben.
Kultur äußerte sich im rational/mentalen Zeitalter im Denken. D.h. wir hatten eine Sprache, die alle verstehen konnten, weil die Definitionen der gebrauchten Worte allen einsichtig waren.
Seit etwa 130 Jahren gibt es in der Philosophie, dem Organ für Denken nichts wirklich Neues. Metaphysik war. Nun versuchen die Philosophen die Welt postmetaphysisch zu erklären. Sie haben sich aber vollkommen von der Realität und Sprache der Menschen entfernt, leben in der ganz eigenen Blase. Sie sind teilweise auch noch nicht bereit die Welt nicht nur objektiv, sondern gleichzeitig auch subjektiv zu erklären. Wir haben damit eine Krise der Philosophie, die alle anderen Krisen nach sich zieht.
Hinzu kommt, dass der heute lebende Mensch in eben diese Begriffs-schwache Welt geworfen ist, nirgendwo mehr einen Halt außer sich selbst findet und demzufolge sein Ego als normative Kraft einsetzen muss. Aus solch atomisierten Einzelwesen werden Narzissten mit all den verheerenden Wirkungen auf unser Allgemeinwesen. Soweit die Analyse der heutigen Lage. Es gibt aber auch einen Lösungsweg, den wir nur verstehen müssen.
Seitdem die Philosophie an ihre rationalen Grenzen gestoßen ist, sprich ihr die richtigen Worte fehlen, hat die Kunst die Evolution in das Integrale übernommen.
Wir halten fest: archaisch, magisch, mythisch, mental sind jeweils andere Zugänge zu einem bestimmten Thema, welche dann unter Einbeziehung dieser Bewusstseinsfrequenzen im Integralen gemeinsam evident werden.
Besonders auffällig scheint es gegenwärtig zu sein, dass es keine bestimmte Stilrichtung in den Künsten mehr gibt. Diese gab es aber in allen anderen Epochen der bewussten Menschheitsgeschichte.
Wir finden heute Kunst aus allen Stilrichtungen, aus allen Bewusstseinsebenen. Die Künstler haben sich zumindest intuitiv auf den Weg ins Integrale gemacht, Die Philosophie als die eigentliche Grundlage der Kultur muss hier nachlegen.
Für Kai Hellbusch bietet das Werk Jean Gebsers die Möglichkeit
der Philosophie „eine neue Funktion zuzuweisen, die nicht mehr rückschauend-beurteilend ist, sondern vorschauend-eröffnend.“
Soweit das erste Kapitel seiner Arbeit.
Zusätzlich sollte vermerkt werden, dass Gebser selbst die Philosophie als Grund und Merkmal des rational/mentalen Bewusstseins erachtet. Denken bedeutet für ihn Philosophie. Wenn wir aber den Sprung ins integrale Bewusstsein geschafft haben, wird das Denken, verknüpft an das Verständnis der Sprache nicht mehr ausreichen, sondern wir brauchen die Erweiterung in alle anderen Bewusstseinsstrukturen. Die klassische Philosophie wird es nicht mehr geben. Auch hat Gebser in seinem Hauptwerk Teil II „Ursprung und Gegenwart“ gerade die Ausdrucksformen der verschiedenen Künste in bezug auf Integralität sehr ausführlich untersucht.
Hellbusch schreibt im ersten Kapitel seiner Dissertation Sinn und Ziel seiner Arbeit über Jean Gebser:
„… können nur andeuten, dass die Konzeption Gebsers ein enormes Innovationspotential für die Philosophie besitzt. Auf ihrer Grundlage lassen sich ganz neue Forschungsfelder erkunden. Sie kann aber auch zur sinnvollen Forschungslenkung beitragen, dies wäre eine ihrer politischen Aspekte. Das weite Feld, dass sich öffnete, wenn die Konzeption Gebsers ernstgenommen würde, wäre nicht mit philosophieinternen Kontrastierungen und Detailuntersuchungen auszuschöpfen, sondern böte Raum für neue Grundlegungen elementarer philosophischer Probleme. Dass die Konzeption ernstzunehmen ist, soll mit dieser Arbeit erwiesen werden.“
(Man beachte den Konjunktiv!)
Hier die Daten um vielleicht doch noch an die Dissertation von Kai Hellbusch zu kommen, die es nicht mehr im Handel gibt.
Kai Hellbusch: Das integrale Bewusstsein, Jean Gebsers Konzeption der Bewusstseinsentfaltung als prima philosophia unserer Zeit.
ISBN 3-936582-58-0
Berlin 2003
Promotion mit der obigen Arbeit an der TU Dresden 1998
Weniges findet man zu Kai Hellbusch auch im Netz. Ansonsten ist es traurige Wirklichkeit, dass die Werke Gebsers nach wie vor ein zwar unsterbliches aber doch nur kleines Nischendasein führen müssen.
Auch wird in der Arbeit sehr oft der Theologe und Philosoph Georg Picht erwähnt, der 8 Jahre jünger als Gebser, auch die gleichen Erkenntnisse zur Bewusstseinsentwicklung beschreibt. Auch seine Werke sind kaum noch erhältlich, bzw richtig teuer.
Z B.: „ Kunst und Mythos“ 1986
Liebe Eva, schön, hier wieder von dir zu hören und danke für das Teilen deiner Erkenntnisse und Gedanken, die für mich immer wieder sehr spannend sind. Sei lieb gegrüßt, Sandra